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Only Everything

David Sanborn
© Lynn Goldsmith
06.01.2010
“Unter den großen Saxophonisten der letzten vier Jahrzehnte”, so hieß es einmal im amerikanischen Rolling Stone, “hat David Sanborn sich eine ganz eigene Identität erspielt. Er ist Jazz, er ist Funk, er ist Soul, er ist Pop, er ist Blues, er ist Rock. Das Beeindruckendste ist dabei, dass er sich mit einer Instrumentalstimme, die sowohl kraftvoll als auch zärtlich, sinnlich als auch subtil ist, in jedem dieser Genres hervortut.”

Mit “Only Everything” zollt Sanborn der Ästhetik von Ray Charles nun schon zum zweiten Mal Tribut. Und wie beim ersten Anlauf betrachtet er seine musikalischen Wurzeln auch diesmal aus einer neuen Perspektive. Die New York Times nannte das 2008 erschienene Vorgängeralbum “Here And Gone” “ein entwaffnendes Vergnügen”. Jetzt kehrt der Altsaxophonist mit neu entfachter Leidenschaft auf dasselbe Terrain zurück.

“Wenn mich jemand fragen würde, was Ray – oder Rays Musiker – mir bedeuteten, dann könnte meine Antwort lauten: ‘Only everything’”, sagt David Sanborn. “Die Grundlage des Albums ‘Only Everything’ ist Dankbarkeit. Ich bin nicht nur für das musikalische Leben, das ich führen durfte, dankbar, sondern auch für die ursprünglichen Inspirationsquellen, die mich noch fünfzig Jahre, nachdem ich auf sie gestoßen bin, erfüllen und begeistern.”

Die dafür ausschlaggebende Begegnung fand in Sanborns musikalischem Leben 1956 statt, als er elf Jahre alt war. “Mein Dad nahm mich ins Kiel Auditorium mit, eine Sporthalle, die während der Basketballsaison die Heimat der St. Louis Hawks war und ansonsten als Bühne für Bigbandkonzerte fungierte”, erinnert sich Sanborn. “Als ich Ray dort das erste Mal persönlich erlebte, trat er mit einer kleinen Band auf. Ich kannte ihn da schon durch seine Aufnahmen von ‘I Got A Woman’, ‘Drown In My Own Tears’ und ‘Night Time (Is the Right Time)’. Diese Songs hatten meine Inspiration befeuert. Aber seine Live-Performance verwandelte mich. Er sang mit einer Leidenschaft, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Obwohl seine Stücke eigentlich Pop-Hits waren, waren sie vom Blues durchtränkt. Neben der Autorität seiner Stimme und den Funken seines elektrischen Pianos nahmen mich zwei zusätzliche Kräfte aus Rays Welt gefangen und ließen mich bis heute nicht los: Die erste war Hank Crawford, die zweite David ‘Fathead’ Newman, die beiden Starsaxophonisten der Band. Hank und Fathead hatten jeweils eigene Stimmen, die – obwohl verschieden – eng mit der Stimme von Ray verknüpft waren. Es war die Stimme des Schmerzes, der Freude, der Erlösung und der Erleichterung. Beide spielten eine Mischung aus zutiefst ländlichem Blues, geweihter Gospelmusik und großstädtischem Jazz. Die Botschaft dieser Musik traf mich wie ein Blitz: Besorg dir ein Sax.”

Sanborn legte sich ein Saxophon zu und darüber hinaus noch eine eigene Stimme. Wie nur eine Hand voll anderer Altsaxophonisten in der Musikgeschichte – Benny Carter, Johnny Hodges, Earl Bostic, Charlie Parker, Cannonball Adderley, Paul Desmond – kann man Sanborn sofort an seinem Klang identifizieren. Seine musikalische Stimme ist zutiefst menschlich, ein Aufschrei sowohl des Schmerzes als auch der Freude.

“Wenn ich eine Platte mache”, erklärt er, “suche ich nach einem Grundklang und verwende diesen als einigende Quelle, als hörbares Zentrum der Platte. Bei ‘Only Everything’ einigte ich mich mit Phil Ramone, der auch schon ‘Here And Gone’ produziert hatte, darauf, dass dieser Klang der von Joey DeFrancescos Orgel sein sollte. Joey ist meines Erachtens der amtierende König der Hammond-B3-Orgel. Er beherrscht das Instrument komplett. Aber er ist nicht nur in technischer Hinsicht ein bemerkenswerter Spieler, Joey hat auch Gefühl wie kein zweiter. Keiner schafft es härter zu grooven und dennoch spielt auch niemand relaxter als er. Während dies meine erste Aufnahmesession mit Joey war, bilde ich mit Steve Gadd seit Jahren ein Team. Er ist ein bemerkenswerter Schlagzeuger, der ganz im Dienste der Musik spielt. Er koloriert seine Trommeltöne in unaufdringlicher Art und treibt uns noch an, wenn er sich entspannt zurücklehnt.”

Die ersten drei Songs von “Only Everything” hält Sanborn für die definitiven Grundpfeiler des Albums. “‘The Peeper’ ist meine Hommage an Hank Crawford”, führt Sanborn aus. “Hank schrieb diesen Song, nahm ihn auf und betrachtete ihn als seine Erkennungsmelodie. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich ‘The Peeper’ auf Hanks Album ‘From The Heart’ entdeckte. Ich liebte das Album so sehr, dass ich es mit ins Bett nahm und unter meinem Kopfkissen versteckte. Bei seinen frühen Solosessions spielte Hank mit Rays Band, aber ohne Ray selbst. Die Abwesenheit eines Tasteninstruments verlieh Hank eine erstaunliche Präsenz. Er sprang einen förmlich von der Vinylscheibe aus an und blies einem direkt ins Gesicht. Auf ‘Only Everything’ wollte ich an diese Spielhaltung anknüpfen, aber mit neuen Ideen.”

“Only Everything” ist eine brandneue Sanborn-Komposition, die wie eine zeitlose Soulballade aus den Fünfzigern daherkommt. “Das Stück ist meiner Freundin Sofia und meiner kleinen Enkelin Genevieve gewidmet”, verrät der Komponist. “Ich denke, diesen Song könnten auch die großen Meister gespielt haben, die mich beeinflussten: Typen wie Lockjaw Davis und Gene Ammons. Es ist eine auf dem Blues basierende Nummer, aber ich bin ja schließlich selbst auch im Blues verwurzelt. Ich glaube, es war Mose Allison, der gesagt hat, dass es zwei Arten von Songs gibt: den Blues und alles andere. Auch bluesbasierte Musik ist für mich ‘only everything’.”

“Hard Times” bezeichnete der bekannte Produzent Jerry Wexler einmal als ein von “Fathead Newman auf dem Altsax artikuliertes Thema, eine eindringliche Hymne, die noch heute in rechtschaffenen Bluesbars im ganzen Land gespielt wird”. Diese Worte zaubern Sanborn ein breites Grinsen aufs Gesicht. “Ich hörte ‘Hard Times’ das erste Mal aus einer Jukebox, als ich 14 war”, erinnert er sich. “Der Song war damals gerade erst auf Newmans Album ‘ Ray Charles Presents Fathead’ herausgekommen. Und er haute mich um. Als ich hörte, mit was für einer Eloquenz und Anmut Fathead seine Geschichte erzählte, wusste ich, dass ich nie dazu in der Lage sein würde, etwas so Einfaches und doch Komplexes zu spielen. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich Poesie hörte.”

Sanborn hat im Laufe seiner Karriere viele höchst erfolgreiche Begegnungen mit Sängern und Sängerinnen gehabt – von David Bowie über Linda Ronstadt bis Little Jimmy Scott. Auch “Only Everything” enthält zwei solcher Begegnungen. Die erste hat er hier mit Joss Stone, deren Interpretation von Ray Charles’ “Let The Good Times Roll” absolut fesselnd ist. Der Song wurde in den 1940er Jahren zwar schon von Louis Jordan aufgenommen, als die definitive Aufnahme dieser Nummer gilt allerdings Rays eigene Version für das bahnbrechende Album “The Genius Of Ray Charles”. In Gil Goldstein Arrangement hallt das Arrangement wider, das Quincy Jones 1959 für Rays Originalaufnahme geschrieben hatte. “Joss ist eine junge Frau mit einer alten Seele”, meint David Sanborn. “Sie ist eine Naturkraft, die die Urgewalt von Soulmusik versteht. Dies ist unser zweites Aufeinandertreffen. Auf ‘Here And Gone’ sang sie Rays ‘I Believe To My Soul’, einen düsteren Song von mörderischer Intensität. Diesmal wollte ich Joss die reine Freude von Rays sinnlicher Seite ausdrücken lassen. Sie zog sich brillant aus der Affäre.”  

Dizzy Gillespie sagte einst, dass Ray Balladen in einem so langsamen Tempo vortrug, dass man zwischen zwei Beats lässig einmal um den Block spazieren konnte. Ein solches Tempo verpasst Sanborn hier dem Klassiker “Baby, Won’t You Please Come Home”. “Ungefähr zur selben Zeit, als Ray mein Musikverständnis formte, übte auch Miles einen ungeheuren Einfluss auf mich aus”, berichtet Sanborn. “Ich hörte sein Album ‘Seven Steps To Heaven’, als ich ein Teenager war. Mit Victor Feldman am Vibraphon spielte Miles eine Version von ‘Baby, Won’t You Please Come Home’, die mir bis ins Mark ging.”

In den 1950ern und frühen 1960ern nahm sich Miles vieler Songs an, die damals als überaltet galten, und ließ sie neu klingen. Indem er ihren emotionalen Kern freilegte, erfand er sie neu. In dieser Hinsicht hatte er etwas mit Ray Charles gemein: beide verstanden es, etwas Banales in etwas Wunderbares zu verwandeln. Sanborn tut dies hier mit “You’ve Changed”. “Ich assoziiere das Lied mit Little Jimmy Scott, der einer von Rays Lieblingssängern war”, meint der Saxophonist. Ray verehrte Scott so sehr, dass er – obwohl er nur selten andere Künstler produzierte – 1962 bei der Aufnahme von dessen brillanten Album “Falling In Love Is Wonderful” Regie führte. Jimmy steuerte auch 1995 zu Sanborns Album “Pearls” eine glühende Interpretation von “For All We Know” bei. Die Version von “You’ve Changed”, auf die sich Sanborn hier bezieht, stammt von Scotts wenig bekanntem 1975er Savoy-Album “Can’t We Begin Again”. Wie Jimmy ist David ein ungemein beseelter Balladeninterpret. “Er spielt nicht Saxophon”, meinte Scott einmal über Sanborn, “er singt durch das Saxophon. David und ich, Mann, wir verkehren miteinander wie zwei Sänger.”

Als Miles Davis sich einmal über Sänger ausließ, sagte er, James Taylor “singt, als wäre er blind”. Diese Beobachtung ist besonders treffend, wenn man hört, wie Taylor und Sanborn auf diesem Album Ray Charles’ “Hallelujah, I Love Her So” interpretieren. “James erzählte mir, dass er den Song am Anfang seiner Karriere gesungen habe”, sagt Sanborn. “Er schickte mir ein einfaches Demo-Band zu, auf dem er ihn nur mit seiner Stimme und Gitarre aufgenommen hatte. Die Aufnahme war wunderbar entspannt, und ich wusste gleich, dass wir dieses Feeling auch im Studio beibehalten mussten. James schaffte es. Er erzählte die Geschichte – so wie er all seine Geschichten erzählt – mit einer warmen Natürlichkeit, die den Blues zurückschlägt.”

Es sollte über 30 Jahre dauern, bis Ray Charles den Klassiker “Blues In The Night” aufnahm. Als er das bereits 1941 geschriebene Stück 1979 endlich für sein Album “Ain’t It So” einsang, sagte er: “Harold Arlen und Johnny Mercer waren ganz schöne Hurensöhne. Mit ‘Blues In The Night’ schufen sie eine der absolut grandiosesten Bluesballaden aller Zeiten. Jeder hat diesen Song im Repertoire, von Woody Herman über Artie Shaw bis Rosie Clooney. Ich wollte ihn schon seit langem machen, brauchte aber eine halbe Ewigkeit, um einen Zugang zu ihm zu bekommen. Schließlich schnallte ich, dass es mit dem Tempo zu tun hatte. Ich musste den Scheiß verlangsamen – und das nicht zu knapp.” Sanborn kam zum selben Entschluss. Seine Interpretation dieser Arlen/Mercer-Nummer ist, wie eigentlich alles auf “Only Everything”, eine weitere leidenschaftliche Revision des Blues. Und wenn David Sanborn den Blues einer Revision unterzieht, dann wird er in die Zeit zurückkatapultiert, als er diese urwüchsige musikalische Quelle erst entdeckte und voller Neugier und Passion erforschte. Mit ganzem Herzen und ganzer Seele erfindet er die Musik, auf deren Gebiet er ein unbestrittener Meister ist, hier neu.

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