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Große Kunst jenseits aller Schubladen

Große Kunst jenseits aller Schubladen
© DG
04.06.2020
Als sich die Venus beim legendären Bacchanal des Tannhäuser im Bayreuther Festspiel-Sommer 1961 mit gleißendem Brokatgewand und aufragendem Kopfschmuck vor den ekstatisch fiebernden Tänzern erhob, war das Aufsehen groß: Keine blonde Darstellerin thronte dort vorne als Liebesgöttin auf der Bühne, sondern eine Schwarze Sängerin mit strahlender und voluminöser Stimme. Für ihren Auftritt wurde die damals erst 24-jährige Grace Bumbry mit 30-minütigem Applaus gefeiert. Gleichzeitig war der Presserummel groß und sah sich Bumbry mit dumpfen rassistischen Vorurteilen konfrontiert. Keine neue Erfahrung für die Sängerin: “In Bayreuth war ich 24, ich wusste also, was Rassismus ist. Aber ich wollte mich durch niemanden von meinem Ziel abbringen lassen”, so Bumbry später – “Jemand musste schließlich die Erste sein – und warum nicht ich?”
Als “schwarze Venus von Bayreuth” und erste afroamerikanische Sängerin bei den Wagner-Festspielen hat Grace Bumbry in diesem Sommer 1961 Geschichte geschrieben und es gelang ihr der Durchbruch auf den europäischen Bühnen. So wurde Bumbry zur ersten und bis heute einer der wohl größten Operndiven der Welt, deren mitreißende Interpretationen regelmäßig auch bei Deutsche Grammophon oder Decca veröffentlicht wurden.
Gleichwohl die gläsernen Mauern mitunter erschreckend dick waren in der Musikwelt, standen Deutsche Grammophon und Decca seit jeher vehement ein für Klangkunst jenseits aller Hautfarben und Zuschreibungen und blickt man auf die Künstler*innen, die in all den Jahren mit herausragenden Veröffentlichungen bei den Labels in Erscheinung traten, zeigt sich eine berückende Vielfalt.
Betörende Eleganz, mitreißendes Temperament und eine brillante Technik – die Schwarze Mezzosopranistin und DG-Künstlerin Shirley Verrett vereinte alles auf der Bühne und doch musste auch sie erst etliche Hürden bezwingen, bevor ihre künstlerische Brillanz ganz zur Geltung kommen konnte. In der Nachfolge von Marian Anderson, der ersten Person of Color an der MET, gelang ihr schließlich eine Opernkarriere in der von rassistischen Vorurteilen durchsetzten Opernwelt Nordamerikas.
“Schubladen sind nur für Socken gut”, das war einer der Leitsätze der 2019 verstorbenen Sopranistin Jessye Norman, den sie mit ebenso großer Leidenschaft und Hingabe lebte wie auch ihre Kunst. Schon früh nahm die charismatische Sängerin den Kampf für künstlerische Gleichberechtigung unabhängig von der Hautfarbe auf und Zeit ihres Lebens waren ihr politisches Bewusstsein und soziales Engagement enorm. Debütierte sie im Jahr 1969 noch mit weiß geschminktem Gesicht als Elisabeth in Wagners Tannhäuser an der Deutschen Oper Berlin, so befreite sie sich später aus derart stereotypen Rollenzuweisungen. Dabei wandte sie sich zunehmend stärker auch der Jazz- und Gospel-Tradition ihrer Heimat zu. Bei Deutsche Grammophon verewigte sich Norman unter anderem mit dem legendären “Spirituals”-Album, das sie zusammen mit ihrer Kollegin Kathleen Battle aufnahm, die längst nicht nur durch ihren legendären Rauswurf aus der MET Berühmtheit erlangte, sondern allem voran durch ihre eindringliche Interpretationskunst.
Auch Sopranistin Reri Grist, die bei der Uraufführungsproduktion von Bernsteins der “West Side Story” das berühmte “Somewhere” sang und über das Musical zur Oper kam, musste sich immer wieder mit rassistischen Attacken auseinandersetzen. Von Kritikern u. a. als “schwarzes Blondchen” bezeichnet, gelang ihr gleichwohl als einer der ersten Schwarzen Opernsängerinnen überhaupt eine Weltkarriere und bis in die Neunzigerjahre sang Grist die großen Rollen an der Bayerischen und der Wiener Staatsoper, der Mailänder Scala, der Royal Opera oder der MET.
Gershwin gerne, Wagner besser nicht – mit derartigen Klischees wurde auch Bassbariton Simon Estes konfrontiert, der diesen mit stimmlicher Verve trotzte. So trat er 1978 als erster afro-amerikanischer Sänger bei den Bayreuther Festspielen in der Rolle des “Fliegenden Holländers” auf und führte alle Vorurteile ad absurdum. In Götz Friedrichs legendärer Berliner “Ring des Nibelungen”-Produktion aber kochten die Diskussionen um seine Person besonders hoch: Götz Friedrich und Wolfgang Wagner waren sich einig darin, den damals besten Bassbariton seiner Zeit als Wotan zu besetzen! Sehr zum Ärger vieler eingefleischter Wagnerianer, die heftig protestierten und beispielsweise dem mit absurden Klischée zu punkten versuchten “Der Lichtalbe, das muss ein Weißer sein. Er muss ein nordischer Gott sein, das geht nicht!”. Und wie es ging! Estes überzeugte stimmlich wie darstellerisch und setzte seine künstlerische Exzellenz rassistischen Ressentiments entgegen.
Auch in der jüngeren Generation finden sich unter den auf Deutsche Grammophon und Decca vertretenen Interpret*innen etliche Beispiele, die mit ihrer Kunst eindrucksvoll jegliches Schubladendenken in die Schranken weisen. Da ist etwa Derek Lee Ragin, der längst zur renommierten kleinen Spitzengruppe der weltweit gefragten Countertenöre gehörte und als Meister des barocken Vokalstils ebenso galt wie als herausragender Interpret Neuer Musik. Dann ist da der Tenor Lawrence Brownlee, einer der derzeit prominentesten Vertreter des Belcanto-Repertoires, bekannt unter anderem für seine Interpretation des Grafen Almaviva in “Il barbiere di Siviglia”. 
Und da ist nicht zuletzt die lyrische Sopranistin Pumeza Matshikiza, deren Biografie ebenfalls viel erzählt über das Leid, das durch Rassismus entsteht. In ihrer Jugend erlebte Pumeza, wie ihre Heimat sich Anfang der 1990er Jahre aus der Apartheid befreite. “Ich erinnere mich, wie die Menschen marschierten und Freiheitslieder sangen und wie die Polizei an bestimmten Tagen mit Tränengas kam. Da waren große gelbe Polizeiautos, die für Ordnung sorgen sollten; ich erinnere mich auch, dass an einigen Tagen, als ich aus der Schule kam, die Leute andere Menschen verbrannten. Als Kinder sollten wir diese Dinge eigentlich nicht sehen; doch das war die Zeit, in der wir lebten”, sagt die Sängerin. Aus den Townships in Südafrika hat es Matshikiza auf die großen Bühnen geschafft. Wie all ihre Kolleginnen und Kollegen überstrahlt sie dort mit ihrem Gesang alle Vorurteile.

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