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Biografie: blackAcetate

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24.08.2005
JOHN CALE
“blackAcetate”

John Cale hat in den musikalischen Annalen der vergangenen vierzig Jahre unüberhörbare Spuren hinterlassen. Musikgeschichte geschrieben hat er aber nicht nur als Gründungsmitglied von Velvet Underground und als Produzent legendärer Künstler wie Nico, Stooges, Nick Drake, Patti Smith und Happy Mondays, auch als Solokünstler, dessen Werk in seiner stilistischen Vielfalt seines Gleichen sucht, ist der Einfluss des 1942 geborenen Walisers auf die unterschiedlichsten musikalischen Genres gar nicht hoch genug einzuschätzen. Für einen Musiker seines Formats, der im Laufe seiner Karriere sowohl mit klassischen Komponisten wie Aaron Copland als auch mit Pop- und Rock-Akteuren von Eno bis Super Furry Animals zusammenarbeitete, ist es ganz natürlich, ständig neue Herausforderungen zu suchen. Deshalb wundert es auch nicht, dass sein neues Album “blackAcetate” ganz anders klingt als der Vorgänger “HoboSapiens”.

Das von der Kritik begeistert aufgenommene Capitol-Debüt zeigte einen von den Zwängen einer Band befreiten Künstler, der in seinem Kellerstudio im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village mit Hilfe der digitalen Aufnahme-Software Pro Tools ein Klangerlebnis der besonderen Art kreiert hatte. “HoboSapiens” verblüffte mit Musik jenseits üblicher Kategorien wie Rock, Pop, Jazz oder Klassik und untermauerte einmal mehr Cales Ruf als einfallsreicher aber auch unbequemer Musiker. Denn leichte Kost bot das mit Songs über Politik, Kunst, Gesellschaft, Religion, Erfolg und Tod vor allem intellektuell anregende Werk nicht. Die serviert “blackAcetate” jetzt zwar genauso wenig, aber insgesamt wirkt das neue Album zugänglicher und weniger experimentell.

Statt weiter im Alleingang die Grenzen zwischen Loops, Samples, Electrobeats und echten Instrumenten verschwimmen zu lassen, stand John Cale der Sinn nach einem kleinen Ensemble und nach konventionell mit elektrischen Gitarren instrumentierten Songs, die man ohne großen technischen Aufwand live auf die Bühne bringen kann. In der Tat präsentiert sich der Sänger, Pianist, Gitarrist und Komponist auf “blackAcetate” über weite Strecken so unprätentiös und rockig wie schon lange nicht mehr. Von der ersten Single “Turn The Lights On” mit kraftvollem Gitarreneinsatz und messerscharfen Soli bis zum wütenden “Sold Motel” mit regelrechten Gefechten von Gitarren, Keyboards und Saxophon lässt John Cale keinen Zweifel, dass er auch im Alter von 63 Jahren nichts von seiner vielgerühmten immensen Energie eingebüßt hat. Mehr noch: Mit einem Song wie dem straffen Velvet-Underground-verwandten Riff-Rocker “Perfect” zeigt er nachdrücklich, wo Bands wie The Strokes ihre Rocklektion gelernt haben.

Ausgangspunkt seiner wieder erwachten Begeisterung für Rock war der düstere, avantgardistische Titel “Brotherman”, ein wahrlich unbequemes Stück Musik mit einpeitschendem Rhythmus, bedrohlichen Sounds und einem ähnlich enervierenden Gesangsstil wie seinerzeit bei Cales Version von Jonathan Richmans “Pablo Picasso”. “Zunächst wusste ich selbst nicht, in welche Richtung sich der Song entwickelte und wo er mich hinführen würde”, erzählt Cale, “aber dann experimentierte ich weiter mit ungestimmten Gitarren und harten Riffs und nach und nach entstanden daraus vier weitere Rocksongs.”

Rock ist indes nur einer von diversen Stilen auf “blackAcetate”. Beinahe alles, was John Cale zuletzt gehört hat, darunter Musik von den Gorillaz, Doves, Jill Scott, Erykah Badu und Curtis Mayfield, diente als Inspiration für seine Kompositionen. Zudem spiegelt sich seine Begeisterung für Produktionen von Dre und Pharrell in den urbanen Rhythmen von Songs wie “Hush” wieder. “Ich bin gegenwärtig sehr an Funk interessiert”, bestätigt der Waliser. “Wenn es mir gelingt, mit diesem Stil gut umzugehen, habe ich einen weiteren Pfeil in meinem Köcher.”

Bei der Produktion des Albums arbeitete John Cale im Team mit Mickey Petralia (Beck, Rage Against The Machine, Eels) und Herb Graham Jr (Macy Gray, Watts Prophets). Graham spielt nicht nur Bass und Schlagzeug, sondern fungiert auch als Co-Produzent und ist mitverantwortlich für die kunstvollen Arrangements und die stilistische Bandbreite des Albums, das mit einer faustdicken Überraschung beginnt: “OuttaTheBag”. Statt mit seiner gewohnt tiefen, vollmundigen Stimme singt John Cale hier zu rauen Gitarren Falsett. Selbst passionierte John-Cale-Kenner werden sich irritiert die Ohren reiben.

“Bei mir ist alles erlaubt, immer vorausgesetzt, die Songs funktionieren auf einem emotionalen Level”, merkt der Sänger an. Das kann man allen 13 Songs bescheinigen, ganz gleich, ob es sich um wütenden Rock, hypnotische Lautmalereien (“In A Flood”, “Wasteland”) oder sanfte Balladen wie “Satisfied”, “Mailman” und “GravelDrive” handelt. Letztere ist ein schmerzhaftes Liebeslied, das John Cale für seine Tochter Eden geschrieben hat. Darin spricht er allen Musikern aus der Seele, die wegen Tourneen und Studioproduktionen nur selten bei ihren Familien sein können. Musikalisch erinnert John Cale hier an eine seiner schönsten Balladen, “Close Watch”.

In seinem umfangreichen Werk nehmen solche Singer/Songwriter-Pretiosen einen ebenso wichtigen Raum ein wie Rocksongs, neoklassische Kompositionen und avantgardistische Klangexperimente. Tatsächlich gibt es wohl kaum einen Musiker, dessen Karriere mehr von Gegensätzen geprägt war. Dabei sah zu Beginn alles danach aus, als würde der Sohn eines Bergmanns und einer Lehrerin die Laufbahn eines klassischen Pianisten einschlagen, nachdem er ein Stipendium für das Goldsmiths College der Londoner Universität erhalten hatte, dem ein weiteres für das Berkshire Music Centre in Massachusetts folgte. Aber schon während des Studiums widersetzte sich John Cale den Regeln der klassischen Musik. Auf der Suche nach anderen Ausdrucksformen ging er 1964 nach New York, wechselte vom Piano zur elektrischen Bratsche und arbeitete mit den legendären Minimalisten La Monte Young und John Cage zusammen. Dann traf er Lou Reed und gründete mit ihm Velvet Underground. Der Rest ist Geschichte, dokumentiert in zahllosen Abhandlungen, darunter Cales Autobiographie “What’s Welsh For Zen” sowie auf zwei Alben, an denen Cale bis zu seinem Ausstieg 1968 mitwirkte.

1970 erschien mit “Vintage Violence” das erste Soloalbum des Ausnahmekünstlers. Das eher nach konventionellen Mustern gestrickte Werk entstand in der gleichen Woche wie “Church Of Anthrax”. Diese Zusammenarbeit mit dem Elektronik-Pionier Terry Riley gilt bis heute als Schlüsselwerk für die Entwicklung der Ambientmusik. Cales damalige Plattenfirma konnte mit so viel Produktivität wenig anfangen und veröffentlichte das Album erst 1971. Der Künstler selbst ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und produzierte bis Mitte der 80er weitere stilistisch gegensätzliche Alben, darunter Klassiker wie “Paris 1919”, “Fear”, “Honi Soit” und “Music For A New Society”.

Ende der 80er und in den 90er Jahren komponierte John Cale vornehmlich Filmsoundtracks und klassische Musik für Streichquartett, Orchester und Ballett. Überdies vertonte er Gedichte des Waliser Poeten Dylan Thomas (“Words For The Dying”) und machte Schlagzeilen mit der Lou-Reed-Kollaboration “Songs For Drella” (1990) sowie einer sechswöchigen Reunion-Tour von Velvet Underground. Allein Soloalben blieben rar. Seit “Artificial Intelligence” von 1985 erschienen gerade einmal zwei: “Walking On Locust” (1996) und “HoboSapiens” (2003).

Insofern ist es schon eine kleine Sensation, dass John Cale gerade mal zwei Jahre für sein neues Album “BlackAcetate” gebraucht hat, mit dem er sich jetzt nicht nur auf dem Rock-Parkett zurückmeldet, sondern auch erneut seinen Rang als Ausnahmekünstler eindrucksvoll untermauert. Wie sich John Cales neues Rockkonzept live anhört, kann man schon bald selbst herausfinden: 25.9. Berlin, Columbia Club / 26.9. Hamburg, Fabrik / 28.9. Frankfurt, Künstlerhaus Mousonturm. August 2005

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