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Stefano Bollani – Carioca

Stefano Bollani  © Paolo Soriani
27.04.2009
Wenn Stefano Bollani mit seinem Album “Carioca” darauf spekulieren sollte, zum Ehrenbürger Rio de Janeiros ernannt zu werden, könnte ihm das glatt gelingen. Zumindest wenn es nach brasilianischen Kritikern und Jazzfans ginge. Die feierten den italienischen Pianisten für seine meisterhafte Einspielung brasilianischer Klassiker nämlich überschwenglich.
“Carioca” ist freilich nicht Bollanis erste Auseinandersetzung mit der brasilianischer Musik gewesen: auf dem 2003 erschienenen Album “Falando De Amor” hatte er schon einmal seine Liebe zu den Kompositionen Jobims zum Ausdruck gebracht. Deshalb blieben dessen Werke diesmal außen vor, auch wenn Bollani wegen des 50jährigen Jubiläums der Bossa Nova noch einmal einen guten Vorwand gehabt hätte, um erneut im umfangreichen Repertoire Jobims zu fischen. Tatsächlich ist es aber ein wahrer Glücksfall, daß der Mailänder gerade dies nicht tat.
Denn so präsentiert er auf “Carioca” ein wesentlich komplexeres Abbild der traditionellen Musik Rio de Janeiros. Mit Ausnahme der von Edu Lobo und Chico Buarque geschriebenen “Valsa brasileira” und einer Eigenkomposition Bollanis stammen alle Stücke aus der Vor-Bossa-Nova-Ära. Das Programm besteht aus diversen Sambas, brasilianischen Tangos (die sich übrigens deutlich von den argentinischen unterscheiden) und vor allem rasanten Chorinhos.
Der in der Regel rein instrumentale Chorinho wird – stark vereinfachend – gerne als das brasilianische Pendant zum New-Orleans-Jazz bezeichnet. Und insbesondere mit seinen virtuosen Interpretationen von Stücken wie"Segura ele", dem weltbekannten Klassiker “Tico-tico no fubá”, “Doce de coco” und “Apanhei-te, Cavaquinho!” begeisterte Bollani die brasilianischen Kenner der Materie. Mit “Il domatore di pulci” schrieb der Pianist für “Carioca” sogar selbst eine wunderbare Chorinho-ähnliche Nummer.

Hervorragende und fachkundige Unterstützung erhielt Bollani bei seinem zweiten Ausflug auf das brasilianische Musikterrain von einigen der besten Jazzmusiker jenes Landes: dem Gitarristen Marco Pereira, Kontrabassist Jorge Hélder, Schlagzeuger Jurim Moreira und Perkussionist Armando Marçal. Einige solistische Höhepunkte steuerten außerdem die Saxophonisten Zé Nogueira und Mirko Guerrini sowie Klarinettist Nico Gori bei (Guerrini und Gori sind auch Mitglieder von Bollanis regulärem Quintett). Als Gäste treten darüber hinaus die Vokalisten Zé Renato (in “Hora da razão”) und Monica Salmaso (in “Folhas secas”) auf. Bei der abschließenden Nummer “Trem das onze – Figlio unico” ist dann Bollani höchstpersönlich als Sänger zu hören.
Als sechsjähriger Knirps hatte Stefano Bollani (1972 in Mailand geboren) davon geträumt Sänger zu werden. Schon damals begleitete er sich, wenn er sang, selbst auf einem Keyboard. Einige Jahre später nahm er eine solche heimische Solo-Performance auf Kassette auf und schickte diese seinem Idol Renato Carosone zu. In einem beigelegten Brief berichtete Stefano ihm von seinem Traum, eines Tages eine Karriere als Sänger einzuschlagen. Carosone schrieb zurück und gab ihm den Rat, sich viele Blues- und Jazzaufnahmen anzuhören. Und Bollani tat wie ihm geheißen.
Die erste Platte, die er in die Hände bekam, war eine Beilage des zweiten Bandes der von den Fabbri-Brüdern herausgegebenen Jazzenzyklopädie (Fratelli Fabbri Editori). Mit elf Jahren schrieb sich Stefano am Luigi-Cherubini-Konservatorium in Florenz ein, wo er 1993 sein Diplom als Pianist machte. Bereits mit 15 Jahren spielte er professionell überwiegend Popmusik und studierte nebenher bei Luca Flores sowie Mauro Grossi und besuchte an der Accademia Nazionale del Jazz in Siena Seminare von Franco D’Andrea.
1996 lernte er am Teatro Metastasio in Prato Enrico Rava kennen, der ihn sofort dazu einlud, mit ihm in Paris aufzutreten. “Du bist jung und hast noch keine Familie”, sagte ihm Rava damals. “Riskier es, gib die Popmusik auf und widme dich ganz und gar der Musik, die du liebst.” Bollani nahm sich Ravas Ratschlag zu Herzen, stieg während einer laufenden Tournee aus der Band des Italo-Rappers Jovanotti aus und stürzte sich auf den Jazz, die Sprache der Improvisation und Freiheit.
Blitzschnell machte sich Bollani in der Jazzszene einen Namen: erst durch die wichtige und anhaltende Zusammenarbeit mit seinem Mentor Enrico Rava, dann als ihn das Fachmagazin Musica Jazz zum besten neuen Talent des Jahres 1998 kürte. Darüber hinuas leitete Bollani das Orchestra del Titanic (mit dem er zahllose Konzerte gab und zwei Aufnahmen für das Label Via Veneto machte), spielte Alben unter eigenem Namen ein, trat in Shows zu Ehren von italienischen Poplegenden wie Peppe Servillo, Irene Grandi, Marco Parente, Elio e le Storie Tese, Gianmaria Testa und Banda Osiris auf und strich im September 2003 in Neapel den Premio Carosone ein, der normalerweise nur an Sänger verliehen wird. Sogar in Japan verzeichnete Stefano Bollani Riesenerfolge. Das Swing Journal, Japans maßgebliche Jazzpublikation, verlieh ihm 2003 als erstem europäischen Musiker den New Star Award. Die sicherlich kurioseste Ehrung wurde dem Pianisten im Mai letzten Jahres zuteil, als er das Cover eines italienischen Micky-Maus-Heftchens zieren durfte.
Enrico Rava ist in den vergangenen gut zwölf Jahren nicht der einzige Jazzmusiker von Weltformat gewesen, mit dem Bollani kollaborierte: auch Richard Galliano, Gato Barbieri, Pat Metheny, Michel Portal, Phil Woods, Lee Konitz, Han Bennink und Paolo Fresu spielten schon mit dem Pianisten zusammen, der mittlerweile auf den großen Bühnen der ganzen Welt (von der Town Hall in New York bis zur Mailänder Scala) zu Hause ist.
Bollanis eigene Musik hat nicht selten einen ironischen Anflug, ist des öfteren unkonventionell und fast schon bizarr, wie etwa “Gnòsi Delle Fanfole”, ein Album, für das er 1998 zusammen mit dem Songwriter Massimo Altomare surreale Lyrik von Fosco Maraini vertonte, oder die “Cantata Dei Pastori Immobili”, eine Art Oratorium für vier Gesangsstimmen, Erzähler und Piano, die auf Texten von David Riondino basiert und von Donzelli 2004 in einem Schuber herausgegeben wurde.
Vier Alben nahm Stefano Bollani für das feine französische Label Bleu auf: “Les Fleures Bleues” (2002 aufgenommen mit Bassist Scott Colley und Schlagzeuger Clarence Penn), eine Hommage an den  französischen Dichter, Schriftsteller und Surrealisten Raymond Queneau; das Soloalbum “Smat Smat” (2003); “Concertone” (2004), ein Werk für Jazztrio und Sinfonieorchester (arrangiert und geleitet von Paolo Silvestri); und schließlich “I Visionari” (2006), die erste Aufnahme von Bollanis neuem Quintett mit dem Saxophonisten Mirko Guerrini, Klarinettist Nico Gori, Kontrabassist Ferruccio Spinetti und Schlagzeuger Cristiano Calcagnile. 2003 begann der Pianist außerdem die Zusammenarbeit mit den dänischen Musikern Jesper Bodilsen (Baß) und Morten Lund (Schlagzeug), mit denen er für Stunt Records die Alben “Mi Ritorni In Mente” (2004) und “Gleda – Songs From Scandinavia” (2005) einspielte.
In der Reihe “Racconti di Canzoni” des Elleu-Verlags brachte er 2004 das Buch “L’america di Renato Carosone” heraus, das die Geschichte des Swing und Jazz in Italien und vor allem die Geschichte seines Idols Carosone erzählt. Im Mai letzten Jahres veröffentlichte das italienische Wochenmagazin L’Espresso in seiner Jazz-Serie die erste italienische CD von Bollanis Trio mit dem Bassisten Ares Tavolazzi und Schlagzeuger Walter Paoli. Die vorherigen Alben des Trios waren bei dem japanischen Label Venus Records erschienen.
Im September 2006 erschien Bollanis ECM-Debütalbum “Piano Solo”, das in diversen Jazzcharts gleich auf den vorderen Plätzen landete. Fast zeitgleich kam mit “La sindrome di Brontolo” auch der erste Roman des Pianisten heraus, der scheinbar gewillt ist, in den Spuren seines vielseitigen norwegischen Instrumentalkollegen Ketil Bjørnstad zu wandeln.
Bei den Polls des amerikanischen Jazzmagazins Down Beat belegte Stefano Bollani 2007 den achten Platz in der Sparte “Neue Jazztalente” sowie den dritten bei den aufstrebenden Pianisten. Auch die Kritiker des New Yorker Magazins All About Jazz würdigten die Talente des Italieners, in dem sie ihn in die Liste der fünf wichtigsten Musiker des Jahres 2007 aufnahmen, Seite an Seite mit Legenden wie Ornette Coleman und Sonny Rollins. Im Dezember desselben Jahres erhielt Bollani in Wien als europäischer Musiker des Jahres den European Jazzprize.

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