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Charlie Haden

10.10.2002
Wer den Bassisten, Bandleader und Komponisten Charlie Haden etwas besser kennt, weiss, dass dieser auf seinen Einspielungen nie einfach nur ein paar beliebige Songs aneinanderreiht, sondern dass die Repertoirezusammenstellung seiner Alben stets einer bestimmten Dramaturgie folgt. Hadens Platten sind aus tiefstem Herzen kommende musikalische Liebeserklärungen: an seine Heimat Missouri, die nächtliche Grossstadt, den Film Noir, populäre Klassiker des “Great American Songbook”, Spirituals und Gospels oder lateinamerikanische Boleros. Diese Tradition setzt Haden, diesmal begleitet von Tenorsaxophonist Michael Brecker, Pianist Brad Mehldau, Schlagzeuger Brian Blade und einem 34-köpfigen Orchester, auch auf seinem neuen Album fort. “American Dreams” ist (den Kennern von Hadens Biographie braucht man dies wohl nicht zu sagen) natürlich kein Werk eines plötzlich bei dem Bassisten ausgebrochenen Hurra-Patriotismus, sondern eine eher wehmütige Reflexion der Ideale der amerikanischen Nation und der vielen gemachten, aber längst nicht immer realisierbaren Verheissungen des “amerikanischen Traums”.
“Ich habe dieses Album nicht wegen der Ereignisse des 11. September gemacht, sondern um auszudrücken, was ich für dieses Land empfinde… ein Land, das auf der Fähigkeit, Träume zu haben und diese zu verwirklichen, gründete”, erläutert Haden. “Die Musik ist all denen gewidmet, die immer noch den Traum von einer Gesellschaft haben, die auf Mitgefühl, kreativer Intelligenz und dem Respekt vor dem Leben fusst – im Interesse unserer Kinder und unserer eigenen Zukunft.”
 
Die von Haden und seiner Frau Ruth Cameron produzierte CD ist ein faszinierendes Spiegelbild der amerikanischen Nation, die paradoxerweise einen ebenso ausgeprägten Sinn für Einigkeit wie für Individualität besitzt. Das Album bietet eine verführerische und zugleich differenzierte Vision der Komplexität des vielbeschworenen “American Dream”.
 
Hadens “American Dreams” beginnen mit einer Komposition des Bassisten, die dieser aus einem amerikanischen Volkslied abgeleitet hat. Es folgen Stücke verschiedener zeitgenössischer amerikanischer Jazzkomponisten: “Travels” von Pat Metheny und Lyle Mays, “No Lonely Nights” und “Prism” von Keith Jarrett, Brad Mehldaus “Ron`s Place” und Ornette Colemans “Bird Food²” “Es war Ruths Vorschlag, ein Stück von Ornette aufzunehmen”, erzählt Haden. “Als sie hörte, wie Brian und ich in ýRon`s Place` interagierten, fühlte sie sich an mein Zusammenspiel mit Ed Blackwell in Ornettes Band erinnert – es hatte denselben Geist.”
 
Die Song-Kollektion enthält ausserdem zwei Stücke, die von dem Songschreiber-Gespann Alan und Marilyn Bergman in Kooperation mit dem Pianisten Dave Grusin verfasst wurden: das aus dem Film “Tootsie” bekannte “It Might Be You” und “Love Like Ours”. Komplettiert wird das Repertoire schliesslich von Don Sebeskys “Bittersweet”, Hadens “Nightfall”, Vince Mendozas “Sotto Voce”, dem Standard “Young And Foolish” von Arnold B. Horwitt und Albert Hague sowie einer besonders bewegenden Version des Klassikers “America The Beautiful”.
 
“Ich wollte schon immer mal `America The Beautiful` aufnehmen”, erinnert sich Haden. “Ich glaube, wir haben einen Weg gefunden, es so zu spielen, dass man nachvollziehen kann, wofür es wirklich steht.”Dank des ungeheuer inspirierten Spiels von Haden und Brecker hat die instrumentale Interpretation dieses Songs das Zeug dazu, ein Klassiker zu werden – zumal das Lied in den USA in letzter Zeit wieder sehr an Popularität und Bedeutung gewann.
 
Mit Michael Brecker hat Charlie Haden zwar schon bei einer ganzen Reihe von Projekten zusammengearbeitet, aber bislang noch nie auf einer seiner eigenen CDs. "Die ersten Aufnahmen mit Michael machte ich für Pat Methenys `80–81`. Ausserdem war ich [1986 und ý88] an den Aufnahmen seiner beiden ersten Impulse!-Alben beteiligt sowie an der Einspielung seines letzten Verve-Albums “The Nearness Of You”. Ich wollte aber auch immer schon mal mit Michael auf einem meiner eigenen Alben zusammenarbeiten, und jetzt ergab sich einfach die perfekte Gelegenheit dazu."
 
Perfekt ist auch das einfühlsame Zusammenspiel von Haden und Brecker mit Brad Mehldau und Brian Blade. “Brad ist wirklich ein Ausnahmemusiker”, lobt Haden den gefeierten jungen Pianisten. “Ich nehme gerne jede Chance wahr, mit ihm zu spielen.” Schlagzeuger Brian Blade (der nicht nur im Jazz eine ausgezeichnete Reputation geniesst, sondern auch schon mit den Pop-Legenden Joni Mitchell, Elvis Costello und Bob Dylan arbeitete) spielte bei den Aufnahmen für “American Dreams” das erste mal mit Haden zusammen. “Ich hatte zwar nie zuvor mit Brian gespielt, aber ich wollte ihn unbedingt auf diesem Album dabei haben”, sagt der Bassist. Bei den meisten Stücken dieser CD wird das Quartett von einem 34-köpfigen Orchester unterstützt, das dem Material eine prächtige cinematographische Klangfülle gibt. “Die Streicher waren allesamt fabelhaft”, meint Haden. “Es sind die besten Streicher, die man in Los Angeles auftreiben kann, und ich hatte wirklich Glück, dass alle zusagten.”
 
Im Frühjahr 2000 erschien endlich Márcio Faracos Debütalbum “Ciranda”, das in Europa, den USA und Japan glänzende Kritiken erntete, in Brasilien aber bis heute noch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Auch wenn es von vielen Rezensenten fälschlicherweise ganz der Sparte “Bossa Nova” zugeordnet wurde, reflektierte das Album doch ein sehr viel breiteres Spektrum der brasilianischen Musik.
 
Ein ebenso glückliches Händchen bewies Haden bei der Auswahl der Arrangeure, die ihm bei diesem Projekt zur Seite standen. Der für seine Arrangierkünste bereits mit zwei Grammys ausgezeichnete Alan Broadbent ist auch als Pianist des hochgeschätzten Quartet West bekannt. Das 1986 von Haden gegründete akustische Jazzensemble spielte in den 80er und 90er Jahren einige der bezauberndsten Alben des Jazz ein. Seine exzeptionellen Fähigkeiten als Arrangeur und Dirigent beweist Broadbent hier bei fünf Songs, darunter das wunderbare Titelstück des Albums.
 
Mit dem Arrangeur Jeremy Lubbock, der für die beiden Bergman/Grusin-Stücke und Hadens “Nightfall” verantwortlich zeichnete, arbeitete der Bassist hier ebenfalls das erste Mal zusammen. “Jeremy ist wirklich ein toller Arrangeur”, schwärmt Haden. “Er arbeitete bereits mit Popgrössen wie Celine Dion, Michael Jackson und Rod Stewart. Ich kenne ihn, seit er die Arrangements für Pat Methenys CD `Secret Story` schrieb, und Pat erzählte mir hinterher, wie sehr ihn Jeremys Arrangements begeisterten.” Lubbock gewann mit Arrangements für Celine Dion, Quincy Jones und die Band Chicago schon drei Grammys.
 
Zwei der verbleibenden Tracks des Albums, “Travels” und “Sotto Voce”, wurden schliesslich von Vince Mendoza arrangiert. Mendoza erhielt vor zwei Jahren für seine Arrangements für Joni Mitchells Album “Both Sides Now” seinen ersten Grammy. “Vince und ich, wir kennen uns schon seit den Aufnahmen für das zweite Quartet West-Album `In Angel City` [d.h. seit 1988]. Ich nahm damals `Fortune¹s Fame` auf, eine seiner Kompositionen. Da ich die Art, wie er schreibt und arrangiert, sehr mag, wollte ich diesmal wieder einen seiner Songs aufnehmen. Er schickte mir die Noten zu `Sotto Voce` – und ich war begeistert. Deshalb bat ich ihn darum, das Arrangement für diesen Titel und gleich auch noch eines für `Travels` zu schreiben.”
 
Bei beiden Stücken kommt – wie 1997 schon bei “Beyond The Missouri Sky”, Hadens Duett-Album mit Pat Metheny, und 2001 bei “Nocturne”, als Gonzalo Rubalcaba an den Tasten sass – ein Synthesizer zum Einsatz. Diesmal verliess sich Haden auf die Sachkenntnis von Mendoza und Synthesizer-Programmierer Judd Miller. “Ich verstehe überhaupt nix von diesem Zeug”, gesteht Haden lachend. “Ich bin definitiv ein analoger Typ in einer digitalen Welt.”
 
Im Laufe seiner gesamten Karriere (und die begann er immerhin schon vor über 40 Jahren) vertrat Charlie Haden stets den Standpunkt, dass die Musik – und die Künste im allgemeinen – keinerlei Kategorien oder Klassifizierungen bedürfe. Diese Philosophie spiegelt sich natürlich auch in der umfangreichen Diskographie des Bassisten wider. Haden hat sich nie auf ein spezifisches musikalisches Genre beschränkt: Er spielte lupenreinen Jazz mit Kenny Barron, Jim Hall und Lee Konitz, Gospels und Spiriuals mit Hank Jones, Blues mit James Cotton, Fado mit Carlos Paredes, Popmusik mit Beck, Rickie Lee Jones und Ginger Baker sowie klassische Werke des zeitgenössischen Komponisten Gavin Bryars. Während er am Anfang seiner Karriere als Mitglied des revolutionären Ornette Coleman Quartet den Jazz weit über die Grenzen der Tonalität hinausführte, schwelgte er in späteren Jahren mit dem Quartet West in nostalgischem Wohlklang.
 
Für Charlie Haden ist der amerikanische Traum noch lange nicht ausgeträumt, auch wenn die bisherige Realisierung dieses Traumes noch manches zu wünschen übrig lässt. In dieser Hinsicht ist Charlie Haden, wie es so schön paradox heisst, ein hoffnungsloser Optimist: “Ich habe immer von einer Welt geträumt, in der es keine Grausamkeiten und keine Habgier gibt; von einer Menschheit, die dieselbe kreative Brillanz besitzt wie unser Sonnensystem; von einem Amerika, das beweist, dass es der Träume Martin Luther Kings und der Majestät der Freiheitsstatue würdig ist.”
 
Und diesen ganz persönlichen amerikanischen Träumen wollte Charlie Haden in seiner Musik endlich einmal Ausdruck verleihen.
 
Musiker: Márcio Faraco – vocal, guitar & arrangements / Kenny Barron & Wagner Tiso – pianos / Patrice Larose – guitar / Índio Brasil – cavaquinho / Daniel Mille – accordion / Jorge Helder & Josué Domingues – basses / Mino Cinelu & Júlio Gonçalves – percussion / Gil Goldstein – additional arrangements / string ensemble
Songs: Efémera / O destino espera / O céu e o mar / Sumidouro / Nosso amor de tanto tempo / O outro lado / Sarapatel humano / Saudade quando dá / Sobrevivente / Um dia eu vou / Pão com pão

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