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Charlie Haden featuring Gonzalo Rubalcaba: Nocturne

11.05.2001
In den letzten sieben Jahren spielte der Bassist Charlie Haden u.a. drei Duo-Alben mit drei sehr unterschiedlichen musikalischen Partnern ein: 1994 zunächst “Steal Away” (Verve 527 249–2) mit dem Pianisten Hank Jones, dann 1996 “Beyond The Missouri Sky” (Verve 537 130–2) mit dem Gitarristen Pat Metheny sowie “Night And The City” (Verve 539 961–2) mit dem Pianisten Kenny Barron. Die Intimität dieser Duos, die stilistisch jeweils gänzlich andere Wege einschlugen, stand jedesmal in aufregendem Kontrast zur oftmals symphonischen Üppigkeit der letzten Quartet West-Alben.
All diese Aufnahmen – so verschieden sie im Grunde auch waren – verband aber auch ein gemeinsamer Nenner: Stets ging es Charlie Haden darum, die schlichte Schönheit von Songs hervorzuheben. Mit mehr als einem halben Jahrhundert musikalischer Erfahrung im Rücken kann der 63jährige Bassist sich diesen Luxus zweifellos gönnen. Seit langem schon hat er es nicht nötig, virtuose technische Mätzchen zu zelebrieren oder durch besonders raffinierte Arrangements seine Originalität zu beweisen.
 
Mit demselben Sinn für Beschränkung auf das musikalisch Wesentliche ging Charlie Haden nun mit dem Pianisten Gonzalo Rubalcaba und einer Reihe weiterer Musiker auch an die Einspielung des Albums “Nocturne”. Nachdem er mit Hank Jones Spirituals, Hymnen und Volkslieder der schwarzen Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten, mit Pat Metheny Country, Blue Grass und ländliche Folksongs des mittleren Westens, mit Kenny Barron verrauchten, urbanen New Yorker Club-Jazz sowie mit dem Quartet West nostalgischen West Coast-Jazz und Filmmusik präsentiert hatte, wagte sich Haden nun mit Hilfe von Gonzalo Rubalcaba an kubanische und mexikanische Boleros.
 
Anfang des 19. Jahrhunderts gelangte der ursprüngliche spanische Bolero nach Kuba, wo er in den Händen der kreolischen Bevölkerung durch die Verschmelzung mit der Danza Habanera eine grundlegende Wandlung erfuhr. Das erste Stück, das offiziell als kubanischer Bolero bezeichnet wurde, war 1883 Pepe Sánchez' Komposition “Tristeza”. In den darauffolgenden Jahren breitete sich der neue, leidenschaftliche Stil rasant in ganz Lateinamerika aus. Die Komponisten Guty Cárdenas und Augustín Lara verhalfen dem Bolero in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer weiteren Blüte, und eine Generation später erreichte er endlich auch das nordamerikanische Festland, wo er einen nicht unerheblichen Einfluß auf die damalige Popmusik nahm. Als Maurice Ravel 1928 seinen “Bolero” schrieb, diente ihm dabei als Inspiration übrigens auch mehr die kubanische Variante als das spanische Original.
 
“Nocturne” ist eine Art Suite, die aus zwölf verschiedenen Episoden besteht. Fünf kubanische (“En La Orilla Del Mundo”, “No Te Empenes Más”, “Tres Palabras”, “Contigo En La Distancia” und “En Nosotros”) und vier mexikanische Klassiker (“Nocturnal”, “Yo Sin Ti”, “El Ciego”, “Noche De Ronda”) aus den 30er bis 50er Jahren wurden von Haden und Rubalcaba durch drei eigene Kompositionen ergänzt: der Bassist steuerte “Moonlight” sowie “Nightfall” bei und der Pianist “Transparence”. Leitgedanke bei der Einspielung von “Nocturne” war, die imaginativen Boleros in eine etwas zeitgenössischere musikalische Sprache zu übersetzen, ohne sie dabei ihrer traditionellen Werte zu berauben.
 
“Gonzalo hatte mir schon bei unserer ersten Begegnung von kubanischen Balladen vorgeschwärmt und so entdeckte ich durch ihn die Boleros, die mir sehr gut gefielen”, erinnert sich Charlie Haden. “Später, als ich bereits drei Platten mit Gonzalo eingespielt hatte, rief ich ihn eines Tages an und sagte: ‘Ich würde gerne einige Boleros mit dir aufnehmen. Du bist Kubaner und kennst diese Stücke wie deine Westentasche. Könntest du ein paar aufnehmen und mir das Tape zuschicken?’ Da wir Jazzmusiker viel unterwegs sein müssen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, verstrichen erstmal einige Jahre. Dann rief Gonzalo mich eines Tages an und meinte, die Kassette mit den Boleros sei fertig. Er schickte sie mir zu und es vergingen noch ein paar weitere Monate, bis ich endlich die Zeit fand, sie anzuhören. Schließlich teilte ich Gonzalo mit, für welche Titel seiner Auswahl ich mich entschieden hatte, und wir stellten das Repertoire dieses Albums zusammen. Ich schlug ihm vor, auch ein oder zwei eigene Kompositionen einzubringen. Ich würde dasselbe tun. Ich dachte vor allem an eines meiner Stücke, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Bolero hat: ‘Moonlight’. Eine Art Gringo-Bolero. Dann einigten wir uns auf ein Datum, um mit den Aufnahmen zu beginnen.”
 
Die meisten der überaus populären kubanischen und mexikanischen Klassiker, für die sich Haden und Rubalcaba entschieden, wurden schon von legendären Sängern wie etwa José Mojica, Armando Manzanero oder der großartigen Chavela Vargas interpretiert. “Contigo En La Distancia”, ein 1952 von César Portillo de La Luz geschriebener kubanischer Bolero, wurde 1994 in der Version Caetano Velosos auch in Deutschland bekannt. Auf seinen Alben “Fina Estampa” (Verve 522 745–2) und “Fina Estampa Ao Vivo” (Verve 528 918–2) hat der Brasilianer dieses wunderbare Stück gleich zweimal verewigt. Der von dem Kubaner Osvaldo Farrés stammende Bolero “Tres Palabras” wiederum erfreut sich bei Jazzern schon seit Jahrzehnten größter Beliebtheit. Die bekanntesten Jazzeinspielungen des Titels stammen von Coleman Hawkins, Kenny Burrell, Joe Henderson, Cal Tjader, Chico O’Farrill und Bobby Hutcherson. Aber auch Kubaner wie Arturo Sándoval, Chucho Váldes und Irakere, Gonzalo Rubalcaba sowie natürlich die alten Recken des Buena Vista Social Club haben sich dieses Thema immer wieder vorgeknöpft.
 
Auf den ersten Blick könnte man denken, daß der stets so bedächtig wirkende (wenngleich geistig und musikalisch unglaublich agile) Bassist und der explosive Pianist ein seltsames Paar abgeben. Aber die beiden kennen sich tatsächlich bereits seit 15 Jahren. Als Charlie Haden 1986 beim “Jazz Plaza Festival” in Havanna mit seinem Liberation Music Orchestra auftrat, fiel ihm der damals 23jährige Pianist mit seiner furiosen Band Proyecto gleich ins Auge. Haden war von Rubalcabas Talenten so sehr beeindruckt, daß er stante pede mit ihm Kontakt aufnahm. Schon ein paar Tage später trafen sich die beiden zu ein paar privaten Duo-Sessions im heruntergekommenen Tonstudio des staatlichen kubanischen Plattenlabels Egrem.
 
Wegen des US-Embargos kubanischer Künstler war es Rubalcaba zunächst allerdings nicht vergönnt mit Haden zu Aufnahmen in die USA zu reisen. Erst ein paar Jahre konnten die beiden ihren Traum von gemeinsamen Aufnahmen realisieren und spielten zusammen mit dem Schlagzeuger Paul Motian zwei Live-Alben ein. Eines wurde 1989 beim Jazzfestival in Montréal mitgeschnitten, aber erst 1997 unter dem Titel “The Montréal Tapes: Charlie Haden with Gonzalo Rubalcaba & Paul Motian” (Verve 537 670–2) veröffentlicht. Das andere, ein Mitschnitt vom 1990er “Montreux Jazz Festival”, erschien 1991 als “Discovery” und war Rubalcabas Debütalbum für Blue Note. Haden übernahm hier auch die Rolle des Produzenten. Noch im selben wurde in Kanada – mit dem Schlagzeuger Jack DeJohnette anstelle von Paul Motian – Rubalcabas erstes Sudioalbum für Blue Note aufgenommen: “The Blessing”. Als der kubanische Pianist 1992 in Madrid mit seiner neuformierten Band Proyecto Latino seine “Suite 4 Y 20” für Blue Note auf Platte bannte, war Charlie Haden als Gast bei einigen Stücken wieder mit von der Partie. Bestandteil dieser Suite waren damals übrigens auch zwei der Titel, die jetzt auf “Nocturne” wieder auftauchen: “Transparence” und “Tres Palabras”.
 
Bei den Aufnahmen von “Nocturne” sekundierte Gonzalo Rubalcaba Charlie Haden nicht nur als Pianist und musikalischer Berater, sondern auch als Koproduzent und Arrangeur. Zu den Aufnahmensessions brachte er zudem seinen derzeitigen Schlagzeuger Ignácio Berroa aus Kuba mit. Haden wiederum bat alte Freunde wie den Gitarristen Pat Metheny und den Saxophonisten Joe Lovano ins Tonstudio, aber auch den jungen Saxophonisten David Sánchez und den aus Urugay stammenden Geiger Federico Britos Ruiz, der einige Zeit in Havanna gelebt hat.
 
“Üblicherweise hätte man nur Musiker ins Studio bestellt, die diese Musik in- und auswendig kennen – das heißt: Kubaner und andere Lateinamerikaner”, sagt Gonzalo Rubalcaba. “Aber ich fand es weitaus interessanter, auch ein paar Top-Musiker mitspielen zu lassen, die einen anderen Background haben und etwas Neues einbringen konnten. So luden wir beispielsweise Joe Lovano ein, der diese Sorte Musik – soweit ich weiß – nie zuvor gespielt hat. Charlie, Joe und Pat Metheny stammen also aus den USA, Ignácio Berroa und ich aus Kuba, Federico Britos Ruiz aus Uruguay, David Sánchez aus Puerto Rico. Die Kombination all dieser unterschiedlichen Elemente ergab eine sehr interessante Mischung, bei der sich alle Grenzen aufhoben.”
 
Die wunderbaren, verführerischen Melodien der kubanischen und mexikanischen Boleros faszinierten all diese Musiker gleichermaßen. Und man kann den Spaß, den die Band bei der Interpretation dieser großartigen Themen hatte, unschwer erkennen. “Nocturne” bietet Boleros im orchestralen Gewand! Ganz einfache und einfach elegante Meisterwerke!
 
Musiker: Gonzalo Rubalcaba – piano & arrangements / Charlie Haden – bass / Ignácio Berroa – drums& percussion

Special Guests: Joe Lovano – tenor sax (1, 4, 7 & 11) / David Sánchez – tenor sax (6 & 10) / Pat Metheny – acoustic guitar (2) / Federico Britos Ruiz – violin (1, 5 & 8)

Songs: En La Orilla Del Mundo (At The Edge Of The World) / Nocturnal / Moonlight (Claro De Luna) / Yo Sin Ti (Me Without You) / Nightfall (Caída De La Noche) / Noche De Ronda (Night Of Wandering) / Transparence / No Te Empenes Más (Don’t Try Anymore) / El Ciego (The Blind) / Contigo En La Distancia – En Nosotros (With You In The Distance – In Us) / Tres Palabras (Three Words)

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