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Emigrate, “Silent So Long”, 2014

Emigrate - Silent So long - 2014
09.10.2014
Natürlich braucht man diesen Mann nicht mehr vorzustellen. Richard Kruspe hat mit Rammstein erreicht, was den meisten Musikern verwehrt bleibt: Platinalben, internationale Tourneen in nahezu sämtlichen Ländern der Erde, die Anerkennung des Feuilletons ebenso wie die Zigtausender Fans. Doch es gibt noch einen anderen Richard Kruspe als den, der bei Rammstein im Rampenlicht steht. Auf dem 2007 erschienenen Debüt seines Solo-Projekts Emigrate überraschte der Gitarrist erstmals als facettenreicher Sänger düstermelancholischer Industrial- und Metal-Songs.
Kruspe erweiterte sein musikalisches Spektrum – und stieg mit “Emigrate” auf Anhieb in die Top Ten der deutschen Charts ein. Bereits damals war für Kruspe klar, dass Emigrate keine Eintagsfliege bleiben sollte. Zu viel Spaß hatte ihm die Arbeit im lockeren Verbund mit dem Gitarristen und Produzenten Olson Involtini sowie Arnaud Giroux (Bass) gemacht. “Ich kann gar nicht so genau sagen, warum, aber irgendwie wollte ich immer mindestens zwei Emigrate-Platten machen”, sagt Kruspe. Nun ist es soweit: am 17. Oktober 2014 erscheint mit “Silent So Long” das lang erwartete zweite Emigrate-Album.
Neben den bewährten Mitstreitern Involtini und Giroux, sowie dem Schlagzeuger Mikko Sirén konnte Kruspe für die Produktion des Albums aus einem beeindruckenden Pool internationaler Top-Stars und Kollegen schöpfen, deren Mitwirkung das Album zu einem Hard-Rock-Jam der Sonderklasse werden ließ, wie es ihn so noch nicht gegeben hat. So geben sich auf “Silent So Long” Lemmy Kilmister von Motörhead, Marylin Manson, Jonathan Davis von Korn und Peaches das Mikro in die Hand. “Der Grundgedanke bei Emigrate ist, mit neuen Leuten zu arbeiten, ungewohntes Terrain zu betreten, andere Welten zu entdecken”, sagt Kruspe. Doch auch wenn der Teamgedanke bei Emigrate im Vordergrund steht, ist es am Ende vor allem Richard Kruspes Stimme, die das vielseitige Werk zusammenhält: Der Gitarrist ist in den vergangenen Jahren als Sänger deutlich gereift, er hat an Struktur, Charakter und Dringlichkeit gewonnen.
Dabei war ursprünglich gar nicht geplant, dass Kruspe bei Emigrate selbst singt. “Der Ursprung von Emigrate geht auf eine Idee von Till Lindemann und mir selbst für ein gemeinsames Projekt außerhalb von Rammstein zurück, die wir vor einigen Jahren hatten”, erklärt Kruspe. Es ging darum, ein bisschen aus den gewohnten Strukturen auszubrechen, niedrigschwelliger zu arbeiten. Irgendwann wurde den beiden indes klar, dass das Ergebnis vermutlich zu sehr an Rammstein erinnert hätte – und so musste Richard Kruspe selbst ran. “Bei Rammstein hatte ich ja immer nur Backgound-Vocals gesungen”, erinnert er sich, “da musste ich mich erst mal einarbeiten”.
Eine Erfahrung, die nicht zuletzt zu einem deutlich gestiegenen Respekt vor der Leistung des Sängers in einer Rockband geführt hat: “Über die Jahre hab ich vielleicht einige der Sänger, mit denen ich gearbeitet habe, zu hart rangenommen, das ist mir jetzt klargeworden. Die menschliche Stimme ist das sensibelste Instrument überhaupt, da geht gar nichts auf Knopfdruck.” Doch auch wenn eine gewisse Restunsicherheit bis heute geblieben ist, wie er sagt: Richard Kruspe hat sich da durch gekämpft. Es sind solche Erfahrungen, die ihn während der Produktion des Albums immer wieder inspiriert haben. Nicht zuletzt, weil die Arbeit an “Silent So Long” Kruspe immer wieder an seine Ursprünge in der Ostberliner Punkszene erinnerte.
“Es gab so eine Zeit im Osten, wo jeder mit jedem Musik gemacht hat und im Wochentakt neue Bands entstanden”, sagt er. “Aus dieser Phase resultiert mein Wunsch, bei Emigrate musikalische Gäste zu featuren. Nach der Wende hat sich das nämlich komplett gelegt und daran hat sich eigentlich bis heute nichts geändert: die Leute haben extreme Berührungsängste, spontan miteinander zu arbeiten, besonders in Berlin. In Amerika ist das anders und diesen ursprünglichen Geist des Punk im Bezug auf Kollaborationen würde ich gerne wieder ein bisschen zurückholen. Insofern hat es mich sehr gefreut, dass ich für diese Platte einige tolle Kooperationen realisieren konnte.”
Wer jetzt allerdings denkt, Lemmy und die anderen hätten zufällig mit Kruspe zusammen im Keller abgehangen und zwischen ein paar Flaschen Schnaps Songs aufgenommen, verkennt die enormen Probleme, die es mit sich bringt, die Zeitpläne von Leuten dieses Kalibers zu synchronisieren. Und so war es für Kruspe nicht zuletzt eine enorme Geduldsübung, die Aufnahmen der prominenten Gäste zusammenzubringen. Eine Zeit, aus der ihm nicht zuletzt einige wirklich gute Anekdoten im Gedächtnis geblieben sind.
Denn nicht alle Gäste hatten die besten Erinnerungen an Kruspe: “Als ich Lemmy zum letzten Mal getroffen hatte, hab ich ihm eine Gitarre vor den Kopf gehauen und er ist ganz böse von der Bühne gefallen”, erinnert sich Kruspe lachend. Allerdings verbarg sich hinter der damaligen Gitarrenattacke keine böse Absicht: Der Motörhead-Frontmann stand schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Kruspe bekam während einer Rammstein-Show hintereinander drei verstimmte Gitarren gereicht und war schließlich so sauer, dass er die letzte von ihnen in die Ecke schleuderte – wo sie am Kopf des am Bühnenrand stehenden Lemmy Kilmisters landete.
Lemmy hat freilich schon ganz andere Dinge hinter sich gebracht und stimmte schnell zu, als Kruspe ihn einlud, mitzumachen. “Lemmy war von allen Gästen beinahe am unkompliziertesten”, erinnert der Auftraggeber sich. Während er infolge gesundheitlicher Probleme reihenweise Konzerte absagen musste, bemühte sich der Motörhead-Mann ins Studio und veredelte den ultratighten Up-tempo-Kracher “Rock City” mit einer besonders straßenköterräudigen Variante seiner einmaligen Trademark-Vocals. “Wenn man mit solchen Leuten aufwächst”, sagt Kruspe, “ist es schon ein cooles Gefühl, plötzlich mit so jemandem wie Lemmy zusammenarbeiten zu dürfen. Das sind Erinnerungen, die ich mit ins Grab nehme”.
Die Aufnahme mit Marylin Manson, den Kruspe von einem gemeinsamen Auftritt im Rahmen der Echo-Verleihung kannte, war zu diesen Zeitpunkt bereits fertig. Nach monatelangem Hin und Her und einem gescheiterten Versuch, sang Manson seinen Beitrag “Hypothetical” schließlich in einem Studio in Los Angeles ein. Nicht nur hier entwickelte Kruspe einen kreativen Umgang mit Entfernungen: Während Gäste wie Peaches und Frank Dellé von Seeed einfach in Kruspes Berliner Studio vorbeikamen, wurde der Beitrag von Jonathan Davies (Korn) im Team mit Kruspe während einer ausufernden Email-Session erarbeitet. Herausgekommen ist der Titelsong, der das Album mit düsterem Industrial-Gewummer und einem hymnischen, an Faith No More erinnernden Refrain beschließt, der ideal zu Davis passt.
Generell war die Hauptarbeit an “Silent So Long” bereits mehr oder weniger abgeschlossen, als die Gäste hinzukamen. Im Stile eines musikalischen Direktors ließ Kruspe sich von seinen eigenen Songs inspirieren und überlegte jeweils nach deren Fertigstellung, welcher Gast zu welchem Song passen würde. Begonnen hatte die Fleißarbeit bereits 2012, als Kruspe im Verlauf eines langen arbeitsintensiven Sommers begann, sein Archiv auszumisten und ältere Ideen auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Hierzu muss man wissen, dass der Gitarrist praktisch ununterbrochen schreibt, auf den Tourneen ebenso wie in jeder freien Minute in seinem Berliner Studio.
Dadurch hatte sich über die Jahre tonnenweise Material angesammelt, das der Gitarrist nun gemeinsam mit Involtini und Giroux veredelte und zu ersten Demos für das geplante Album verdichtete. Im weiteren Verlauf wurde “Silent So Long” während verschiedener Sessions in Kruspes Studio und dem alten Rundfunkhaus in der Berliner Nalepastraße fertiggestellt, ehe Richard Kruspe das Werk in Los Angeles gemeinsam mit Ben Grosse (Filter, Red Hot Chili Peppers, Depeche Mode u.a.) abmischte.
Bis zu diesem Punkt war der gesamte Produktionsprozess für einen Profi mit Kruspes Hintergrund mehr oder weniger klar vorgezeichnet. Seit Jahren beschäftigt Kruspe sich mit Aufnahmetechnik, was ihn in die Lage versetzt, bis zum Ende die Kontrolle über sämtliche Belange eines solchen Mammutprojekts zu behalten. Relatives Neuland betrat Kruspe indes, wie angedeutet, beim Schreiben der Texte und Melodien.
Nun muss man sich jemanden wie Richard Kruspe natürlich nicht als klassischen Singer-Songwriter vorstellen. Aber es gab wichtige Themen, die er für diese Platten verhandeln wollte. “Man hat eine gewisse Grundkonstellation in sich”, sagt er. “Es gibt Themen, die einfach in mir schwingen. Ich bin sicher kein Tom Petty, der Geschichten erzählen kann, sondern ich spiele gerne mit Symbolen und Mehrdeutigkeiten und fühle mich textlich eher bei jemandem wie Trent Reznor zu Hause.”
Kruspe arbeitet assoziativ, entwickelt erst ein Riff, dann eine Melodie, schließlich bleiben erste Worte hängen. Er hatte also Ideen und konkrete Vorstellungen, bei deren Umsetzung ihm ein befreundeter Texter half. “Das hat viel mit Intention zu tun”, sagt er. “Ich habe selbst ein paarmal versucht, mich hinzusetzten und von A bis Z einen Text zu schreiben. Aber bei mir resultiert das eher aus Stimmungen.” Auch in dieser Zusammenarbeit spiegelt sich wieder das wesentliche Kernelement von Emigrate: “Eigentlich ist die Band aus einer Müdigkeit gegenüber der Bandarbeit entstanden”, sagt Kruspe lachend. “Aber durch die Arbeit an dieser Platte ist mir einmal mehr klar geworden, dass so eine Band und überhaupt die Arbeit im Team unfassbar wichtig sind. Man braucht einfach Reflexion, Interaktion.” Eine Einschränkung gegenüber der Arbeit mit Rammstein gibt es jedoch bei Emigrate: Am Ende trifft Richard Kruspe die Entscheidungen.
So entstand ein klassisch-zeitloses Hard-Rock- und Metal-Album von düster-apokalyptischer Grundfärbung und gewaltiger Bandbreite. Das Spektrum geht vom Metal-Donnerwerk “Eat You Alive” bis zum experimentellen, Nine Inch Nails-inspirierten “Get Down”, das Kruspe
gemeinsam mit der kanadischen Königin der Avantgarde, Peaches, präsentiert. Die Hauptband, deren Sound Kruspe durch sein unvergleichliches Spiel deutlich geprägt hat, klingt naturgemäß immer wieder durch, etwa bei “My Pleasure”. Vergleiche mit Rammstein verwehren sich aber alleine schon durch die englischen Texte und Kruspes Gesang.
“Es gab eigentlich keine Songs, die rausgefallen sind”, sagt Kruspe über die enorm ergiebigen Aufnahmen. “Ich fand alle Sachen stark, wollte nichts für B-Seiten verschwenden. Von daher verfolge ich auch den Plan, eventuell noch ein weiteres Album zu machen. Und wer weiß: vielleicht öffnen sich ja jetzt auch Türen, dass diese Platte quasi ein Pionierbeispiel für mehr Offenheit und Kooperationsbereitschaft in der Rockmusik wird.” Da ist er wieder, der alte Ostberliner Traum. Potenzielle Gäste fallen Kruspe haufenweise ein, der Emigrate-Traum geht gerade erst los.
Ein weiterer positiver Nebeneffekt dürften zudem positive Rückkopplungen auf Kruspes Arbeit mit Rammstein sein: “Dave Grohl ist eines der besten Beispiele”, sagt Kruspe. “Der hat diesbezüglich eine Vorbildfunktion für mich, weil er haufenweise tolle Sachen mit so vielen unterschiedlichen Leuten macht und sich so immer wieder inspiriert und frisch hält.” Auch die selbstgewählte Emigration des Richard Kruspe von Rammstein ist stets nur eine vorübergehende, die ihn wach und frisch hält wie ein ausgedehnter Urlaub einen für den Alltag konstituiert.

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