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Henry James

“Der Text ist wie eine Partitur”: Gert Westphal liest Wilhelm von Kügelgen

14.02.2001
Nachmittags spielten die Jungs in Dresden auch in den Zwanzigerjahren Fußball. Nur Gert Westphal stand lieber vor dem Radiomikrofon. Jetzt wird der Vorleser der Nation achtzig.
Mehr als 200 Texte der Weltliteratur hat Gert Westphal aufgenommen, mit Vorliebe Theodor Fontane und Johann Wolfgang Goethe, Heine und Hesse, Wilde und Benn. Vor allem aber und immer wieder Thomas Mann. Wer den ganzen Westphal hören will, sollte etwas Zeit mitbringen: Mit dem Werk Theodor Fontanes vergnügt er seine Hörer 75 Stunden lang, Thomas Manns Erzählungen und Romane erreichen 103 Stunden und der österreichische Rundfunk hat errechnet, dass allein die eigenen Tonbandbestände von Westphals Lesungen mehr als zweimal um die Erde reichen würden. Doch dem Stimm-Magier war es nie um die Menge getan, der Text musste zu ihm passen, der Rhythmus der Sprache ihm vertraut werden.
 
“Die Figuren laufen vor meinem inneren Auge auf und ab. Ich kann gar nicht anders lesen. In der Wahl des Stechlin bei Fontane etwa, bei der alle durcheinander reden, schaffe ich das nur, weil ich sie alle sehe und ihnen in den Nacken springe, um ihnen Stimmen zu geben.” Der ausgebildete Schauspieler, der mehr als 20 Jahre dem Ensemble des Schauspielhauses Zürich angehörte, nahm seine ersten Hörspiele nachts auf, weil er morgens um zehn wieder am Theater Bremen probte. Noch heute sind alle Produktionen mit Gert Westphal von seiner beispiellosen Disziplin und Könnerschaft geprägt, wie sein langjähriger Aufnahmeleiter Hanjo Kesting berichtet: “Westphal ist ein Produktionswunder. Stets glänzend vorbereitet, äußerst konzentriert, gelingen ihm ganze Lesestunden ohne Versprecher, reicht seine Spannkraft für sechs tägliche Produktionsstunden am Stehpult.
 
Wir haben es immer wieder staunend erlebt: Wie mit der Bewunderung seiner Zuhörer im Regieraum auch ihre Erschöpfung zunahm, während Westphal im Studio Konzentration und Ausgeglichenheit bewahrte, eine Art produktiver Heiterkeit.” Seinen Geburtstag feiert Gert Westphal mit einer Lesung ganz privater Art: Die “Jugenderinnerungen eines alten Mannes”, aufgezeichnet von Wilhelm von Kügelgen, sind bis heute ein unentbehrliches Zeitdokument des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Für den jungen Gert Westphal eröffnete es einst eine Welt. Zu seinem 80. Geburtstag zeigt er sie uns: als eine Welt, durchtönt vom Klang seiner Stimme.

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