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Seelensucher am Saxophon

21.09.2001
Vom heroinsüchtigen Anti-Jazzer zum hochheiligen Innovator: Am 23. September 2001 wäre John Coltrane 75 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß erscheinen jetzt pünktlich zum Geburtstag zwei CDs: Die Compilation “Spiritual” und das Live-Album “The Olatunji Concert (The Last Live Recording)” mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen vom April 1967.
Im Sommer 1966, ein knappes Jahr vor seinem Tod, fragte man John Coltrane, was er in zehn Jahren sein wolle. “Ein Heiliger”, antwortete er. Auch wenn daraus eher trockener Humor als gotteslästerlicher Größenwahn sprach, das Ziel hat er erreicht. (Und das nicht nur in den Augen der Gemeinde der St. John Coltrane African Orthodox Church in San Francisco.) Schon zu Lebzeiten war der Saxophonist ein Symbol für Friede, Freiheit und die Suche nach Sinn und Sein. “Sein Tod war mehr als ein Verlust”, meinte Tenorsax-Kollege Teddy Edwards, “er war eine Katastrophe.” So geriet Coltrane postum zum Schutzpatron der Tenorsaxophonisten. Noch heute gilt er als einflußreichster Wegweiser und integerster Improvisator des modernen Jazz. Was er in den elf Jahren seiner musikalischen Hochphase geschaffen hat, ist nach wie vor unerreicht und überwältigend. Die Suche von John William Coltrane beginnt am 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina. Mutter Alice, die eigentlich Opernsängerin werden wollte, und John Senior, ein stets zu Scherzen aufgelegter Schneider, der gerne mal zur Geige greift, erziehen ihren einzigen Sohn unter der Obhut von William Wilson Blair im nahegelegenen High Point. Alices Vater ist dort Pastor. Mit zwölf wird John für die Marschkapelle der Gemeinde angeworben, kriegt ein Althorn, übt, spielt und marschiert, was das Zeug hält.
 
Als er sich für eine der begehrten Klarinetten qualifiziert, übt, spielt und marschiert er noch eifriger. Nicht nur Marschmusik und fromme Lieder. Sein Vaters spielt ihm Blues, Swing und Jazz vor. Als 1939 in kurzer Folge Vater, Großvater und Onkel sterben, zieht sich der ohnehin schon stille Dreizehnjährige noch weiter in sich zurück, und in seine eigene Welt, die Welt des Jazz. Duke Ellington, Jimmy Lunceford, Cab Calloway und Count Basie (und damit auch Lester Young) heißen seine Vorbilder. Mit 17 zieht John nach Philadelphia. Dort spielt er Tanzmucke, arbeitet in einer Zuckerfabrik und studiert erst an der Ornstein School of Music, später in den Granoff-Studios Klarinette und Saxophon. Das Geld dafür verdient er sich mit einem Trio in einer Cocktailbar. Dadurch kommt er auch in die Musikergewerkschaft, was ihm, als ihn 1945 die Navy einzieht, wiederum einen Platz in einer Militärkapelle fernab der Front sichert. Als der Krieg vorbei ist, geht er zurück nach Philly und findet Arbeit als Alt-oder Tenorsaxophonist bei King Kolax, Joe Webb (mit `Big` Maybelle) und Eddie `Cleanhead` Vinson.
 
Es folgen Engagements mit Dizzy Gillespie (mit dem er 1949 seine erste Aufnahme macht), aber auch mit diversen Rhythm`n`Blues-Stars. Als `Train`, wie man ihn mittlerweile nennt, 1953 im Septett seines früheren Idols Johnny Hodges spielt, scheint er sich voll für das Tenorsaxophon entschieden zu haben. Und für die Suchtmittel der damaligen Zeit: Heroin und Alkohol. Als Miles Davis ausgerechnet ihn, den unbekannten Außenseiter, 1955 für sein Quintett mit Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones auserwählt, ist John Coltrane über Nacht nicht nur einer der berühmtesten Jazzer der USA, sondern auch einer der berühmtesten Junkies. Die Musik, die er mit Miles macht, ist das erste Indiz für die Dinge, die da kommen sollen. Neu und neugierig, modern und immer unkonventioneller, freier. Der Kritiker Philip Larkin schreibt damals auf, was viele dachten: “Mit Coltrane wurde die Musik absichtlich häßlich. Sein ekelhafter Ton wurde schlimmer und schlimmer, bis er einen regelrecht ankreischte wie ein Paar dämonisch besessener Dudelsäcke.” E
 
r selbst meinte über die Zeit mit Miles: “Fast alles, was ich aus probieren wollte, wurde willkommen geheißen.” Allerdings ist der Trompeter, erst kurz zuvor selbst entgiftet, weniger begeistert von Coltranes außermusikalischen Aktivitäten: “Er spielte in Klamotten, die aussahen, als schliefe er seit Tagen darin”, erinnert sich Miles in seiner Autobiographie. “Dann stand er auf der Bühne, und wenn er nicht einnickte, bohrte er in der Nase und aß das Zeug. Und er stand nicht auf Frauen wie ich und Philly (Joe Jones). Er stand nur aufs Musizieren. Wenn sich eine nackte Frau direkt vor ihn gestellt hätte, hätte er sie nicht mal gesehen.” Als Miles ihn im April 1957 wegen seiner Drogenprobleme wieder einmal feuert, zieht Coltrane zu seiner Mutter, seiner damaligen Frau Naima und der Tochter Syeeda und kuriert sich brutal, "cold turkey ".
 
Sieben Jahre später feiert er seinen Sieg über Alkohol und Drogen mit dem Album "A Love Supreme ". Schon bei seiner ersten Session unter eigenem Namen am 31.Mai 1957 ist er clean. Die Suche aber geht weiter. So viel man über John Coltrane weiß, so wenig versteht man. Seine Musik erklären zu wollen, ist so unsinnig wie unmöglich. Fast so dämlich, wie ihm die Schuld für all die “jazz-rock-fusion-blah-blah groups” zu geben (wie Amiri Baraka es tat) oder ihm seine komischen Halsbinder vorzuwerfen. Musik muß man hören. In der Analyse stirbt ihr wichtigstes Element: Das Gefühl, die Seele. “Musik ist eine Reflektion des Universums”, sagte Coltrane. “Es ist, als ob man das Leben in einer Miniaturversion hätte. Ich beginne zu verstehen, wie es geht.” Der Saxophonist Chris Potter meinte erst kürzlich: “Coltrane entwickelte einige Techniken, die eigentlich recht simpel zu analysieren sind und die wirklich alle modernen Saxophonisten übernommen haben, die über die Changes von `Giant Steps` spielen können.
 
Diese modalen Patterns und seine rhythmischen Ideen sind mittlerweile fester Bestandteil der Sprache des Saxophonisten. Aber abgesehen davon hat seine Musik diese ehrliche Reinheit, diese unglaubliche Energie, der sich niemand entziehen kann. Auf der wichtigsten Ebene sollte Musik von der Energie handeln, die man als Performer aussendet. Mann, wenn man ýA Love Supreme' hört, springt einen das doch regelrecht durch die Lautsprecher an! Es ist unmöglich, davon nicht berührt zu werden.” Auch heute noch, über 34 Jahre nach Coltranes Tod. Alice Coltrane, seine zweite Ehefrau und musikalische Seelenverwandte, schreibt in den Linernotes zur neuen CD-Compilation “Spiritual”: “Johns Tugenden, offensichtlich in seiner Musik, sollen leben, andauern und durch die Welt und das Universum zurückstrahlen, jetzt und in der Zukunft.”
 
Amen.
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