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Keith Jarrett spielt Dmitri Shostakovich

10.09.2004
Eine Sensation, wie Keith Jarrett die 24 Präludien und Fugen op. 87 von Dmitri Shostakovich spielt. Die ersten Akkorde – und es ist, als begänne eins seiner legendären Solo Concerts. Nach dem Präludium die Fuge – ein Thema wie von Bach. Der Pianist, seit den Anfängen einer der ganz großen Jazz-Künstler im ECM-Programm, hatte für New Series bereits Bach eingespielt: Das Wohltemperierte Klavier I auf dem Piano, den zweiten Teil und die Goldberg-Variationen auf dem Cembalo. All das schwingt mit, wenn er nun Shostakovichs dem verehrten Vorbild nachstrebendes Werk interpretiert: sein atmendes, Grenzen sprengendes Jazz-feeling, sein tiefes Eindringen in Bachs Themenfindung und Kontrapunkt, in Shostakovichs Annäherung, seine technische Perfektion.
Im Oktober des Bach-Gedenkjahrs 1950 – Shostakovich war in der Jury des Leipziger Bachwettbewerbs gewesen – begann der Komponist dieses Werk zu schreiben, Februar 1951 war es fertig. Die Uraufführung 1952 spielte die junge Pianistin Tatjana Nikolajewa, die in Leipzig den ersten Preis gewonnen hatte. Aber gerade der Vergleich ihrer Einspielung von 1991 mit Keith Jarrett zeigt, wie anders, neu, analytischer und klarer strukturierend er sich den facettenreichen Präludien und Fugen widmet. Mag Nikolajewa aus der Nähe zu Shostakovich “authentischer” vorgehen, emotionaler, mit mehr Pathos, donnernden Bässen etwa, viel Pedal und oft langsamer – doch immer mit schönem Ton! -, so arbeitet Jarrett die Themen ohne Überdruck heraus, gibt Mittelstimmen Kontur und melodischen Linien steten Fluss, ihnen aufmerksam nachspürend. Dabei mit Kraft, Temperament und unfehlbarem rhythmischen Empfinden.
 
Anders als Bach, der im Wohltemperierten Klavier chromatisch fortschritt, jeweils in Dur und Moll, von C bis h, folgt Shostakovich dem Quintenzirkel aufwärts: von C-Dur/c-Moll über G/e bis H-Dur/gis-Moll, im zweiten Teil dann von Fis-Dur/es-Moll über Des/b bis F-Dur/d-Moll. Tempo und Charakter der Präludien schöpfen den Spielraum von getragenem Ernst bis zum Kapriziösen nuanciert aus. In den Fugen – je elf drei- und vierstimmig, eine zwei-, eine fünfstimmig – finden sich nicht nur überlieferte Techniken wie Doppelfugen, doppelter Kontrapunkt, Engführung, Arbeit mit Themenfragmenten. Abgesehen von ungewöhnlichen Taktangaben und komplizierten Taktwechseln sind oft schon die Themen rhythmisch raffiniert formuliert und führen zu komplex geschichteten Steigerungen.
 
Vom zauberhaft intonierten C-Dur-Beginn führt eine rhythmische Brücke zum hymnischen d-Moll-Abschluss. Die Fuge treibt das einfache, dem Präludium verwandte Thema in eine mächtige Fantasie. Dmitri Shostakovich ist das Wunder gelungen, nach Bach und nah an Bach, aus russischem Wurzelboden ein eigenständiges Meisterwerk zu schaffen. Keith Jarrett, auch er nah an Bach, hat es im Innersten nachempfunden.
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