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Sonny Rollins – Road Shows, Volume 1

29.10.2008
Seit Sonny Rollins mit 26 Jahren das Album “Saxophone Colossus” aufnahm, ist er in der Szene selbst als “Saxophonkoloss” bekannt. Daß er diesen Titel auch noch im hohen Alter von 78 Jahren verdient (und vielleicht sogar mehr denn je zuvor), beweist Sonny Rollins nun auf seinem neuen Album “Road Shows, Volume 1”. Die auf dieser CD versammelten Live-Aufnahmen stammen zum einen von den ausverkauften Konzerten seiner letztjährigen Welttournee, zum anderen aus dem Tonarchiv des Rollins-Enthusiasten Carl Smith, das annähernd 400 privat gemachte Konzertmitschnitte aus sechs Jahrzehnten (die früheste Aufnahme ist ein dreiminütiges unbegleitetes Altsaxsolo von 1948) und aller Welt enthalten. Einige der heimlichen Aufnahmen machte der pensionierte Rechtsanwalt Smith sogar selbst.
Eigentlich, so meint Kenner Carl Smith, gibt es nicht nur einen Sonny Rollins, sondern gleich drei. Der erste Sonny Rollins ist der Gigant der Bebop- und frühen Post-Bop-Ära, der so bahnbrechende Aufnahmen wie “Saxophone Colossus” (1956), “Way Out West” (1957) und “The Bridge” (1962) machte. Der zweite Sonny Rollins nahm ab 1972 und über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren hinweg für das Label Milestone Records zahlreiche Platten auf, die die Fans des Saxophonisten bei weitem nicht immer befriedigten. Und der dritte Sonny Rollins ist schließlich jener, der vor seinem Publikum erst so richtig zu Leben erwacht und der an einem guten Abend (und von denen hat er viele!) auf eine Art spielen kann, die man – in technischer und kreativer Hinsicht – nur als übermenschlich bezeichnen kann.
 
Und genau dieser dritte Sonny Rollins ist es, den man nun in den Aufnahmen von “Road Shows, Volume 1” (und in den hoffentlich bald schon folgenden Alben dieser neuen CD-Reihe) vorfindet. Die letztendliche Auswahl der Aufnahmen für diese CD nahm übrigens Sonny Rollins' schärfster Kritiker vor: Sonny Rollins selbst. Der Saxophonist ist dafür bekannt, daß er kaum etwas ungerner tut, als sich eigene alte Aufnahmen anzuhören. Und die allermeisten kommentiert er dann mit den legendären Worten: “Das kann ich besser spielen! Das werde ich noch besser spielen!”
 
Das “Road Shows”-Projekt ging auf die Initiative des Sammlers Carl Smith zurück, der sich mit Rollins in Verbindung setzte und ihm die freie Nutzung seines Aufnahmarchivs anbot. Als Clifton Anderson, der seit langem der Posaunist und musikalische Leiter von Rollins' Band ist, mit der Produktion dieses Albums begann, kombinierte er einige Aufnahmen aus Smiths Archiv mit ein paar Aufnahmen, die er selbst bei Konzerten über das Mischpult aufgezeichnet hatte. Der Prozess des Edierens dieser Aufnahmen zog sich dann über Monate hinweg, da Sonny sich in den Pausen zwischen seinen Tourneen immer wieder das zur Verfügung stehende Material anhörte und längst nicht alle Aufnahmen seinem (selbst)kritischen Perfektionsanspruch genügten. Und so mußte ständig neu am Programm dieser CD herumgefeilt werden. Herausgekommen ist schließlich eines der großartigsten Alben, die der Saxophonist in seiner gesamten Karriere veröffentlicht hat. Denn die Magie des “Saxophone Colossus” ist tatsächlich nirgends präsenter als in seinen atemberaubenden Konzerten. 
 
Das Programm beginnt mit einer rasanten, 1986 in Tokio mitgeschnittenen Performance von Sonnys Eigenkomposition “Best Wishes”. Erstmals präsentiert hatte er diese Nummer 1982 seinem Studioalbum “Reel Life”, wo sie fast zögerlich klang. Vincent Youmans Ballade “More Than You Know” nahm Sonny zum ersten Mal 1954 mit dem Pianisten Thelonious Monk auf. Bei dem 2006er Konzert im französischen Toulouse, von dem dieser Mitschnitt stammt, liefert der Saxophonist eine viel tiefer gehende Interpretation des Klassikers ab. Die Einspielung beginnt mit einer kurzen Cadenza, die das Thema vorstellt. Nach einer Überleitung von Posaunist Clifton Anderson paraphrasiert der Saxophonist die Melodie auf seine unvergleiche Art. Nach einem bluesigen Gitarrensolo von Bobby Broom nimmt Sonny das Heft wieder selbst in die Hand und improvisiert über Bob Cranshaws lebhafte Baßharmonien.
 
Das mysteriöse “Blossom”, von einer 1980 in Schweden gemachten Aufnahme, ist eine Entdeckung von Carl Smith. Eine zeitlang wußte niemand, wie dieses Stück überhaupt hieß – bis es Sonny vorgespielt wurde. Rollins erkannte die Nummer als eine seiner eigenen Kompositionen wieder, die er nie für ein Album aufgenommen hatte. Das Thema erinnert ein wenig an Filmmusik und wird von einem agilen Latin-Rhythmus angetrieben. Auf Sonnys Anfangssolo folgen zunächst kurze Soli von Pianist Mark Soskin und Bassist Jerome Harris. Dann meldet sich wieder Sonny zu Wort: mit einem fabelhaften, fast achtminütigen Solo.
 
Rollins war schon früh ein ausgesprochener Fan der Arbeiten von Ralph Rainger und Leo Robin. Das Songwriter-Gespann schrieb 1937 seinen Hit “Easy Living”, den Sonny 1977 zum Titelstück eines seiner frühen Milestone-Alben machte. Bei einem Konzert in Polen gelang ihm die hier zu hörende meisterliche Version des Stücks. Das folgende “Tenor Madness” hatte Rollins erstmals 1956 im Duett mit John Coltrane aufgenommen. Dreißig Jahre später nahm er es erneut für sein Album “G-Man” auf. Aber die auf dieser CD befindliche Live-Performance des Klassikers, die 2000 in Japan aufgezeichnet wurde, ist wohl die inspirierteste Version von allen. In dem folgenden Calypso “Nice Day” läßt Rollins es dann etwas ruhiger angehen.
 
Das Album endet mit der wohl überraschendsten Darbietung. Bei der 50-Jahresfeier seines ersten Auftritts in der Carnegie Hall bildete Sonny Rollins 2007 mit Bassist Christian McBride und Schlagzeuger Roy Haynes ein Trio, das an das Sonny Rollins Trio des Jahres 1957 erinnern sollte. In der amerikanischen Kongressbibliothek war kurz zuvor ein Tonbandmitschnitt von dem legendären 1957er Konzert gefunden worden. Und so war die Idee entstanden, die alte Trio-Aufnahme zusammen mit einer neuen auf einer CD zu veröffentlichen.  Nachdem Sonny dann allerdings die Aufnahmen von 2007 gehört hatte, nahm er von dem Projekt Abstand, weil er – nach eigenem Bekunden – unterhalb seines Niveaus gespielt hatte. Die Fans sahen das natürlich ganz anders und so häuften sich die Bitten nach einer Veröffentlichung des Konzerts. Daraufhin hörte sich Sonny den Mitschnitt noch einmal an und gab schließlich “Some Enchanted Evening”, den absoluten Höhepunkt des Konzerts, für diese CD frei. Das von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II geschriebene Stück hatte er das erste Mal 1949 bei einer Session mit Bud Powell gespielt. Hier präsentiert er nun eine besonders liebevolle Interpretation dieser Nummer, die dem aufregenden Album einen harmonischen Abschluß gibt.

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