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Keith Jarrett – Dark Intervals

11.04.1987
Als Keith Jarrett sich am 11. April 1987 in der Suntory Hall in Tokio an den Flügel setzte, lagen vier Jahre hinter ihm, in denen er lediglich zwei seiner improvisierten Solokonzerte gegeben hatte: das Konzert in Tokio war der Abschluß einer Konzert_Trilogie, die in New York und San Francisco begann. 1983 hatte er mit Soloauftritten aufgehört, weil er sich zu sehr auf die ewige Reproduktion des “Köln Concert” festgelegt fühlte, auf die Rolle des zirzensischen Improvisators, der sich vor Publikum vollkommen seiner Inspiration und der Atmosphäre des jeweiligen Raumes ausliefert. Daß dabei jedesmal etwas anderes herauskommen mußte, und oft weitaus Sperrigeres als das, was die Solodarbietung in Köln 1975 so legendär gemacht hat, liegt auf der Hand. Die Liebhaber des Konsumablen irritierte Jarrett immer wieder mit der Konsequenz, mit der er sich nur auf seine Eingebung verließ und auf nichts sonst. Doch nicht nur der Wunsch nach dem “permanenten Köln Concert” engte den Pianisten ein. Er wollte jeder, auch jeder noch so wohlmeinenden Festlegung entgehen: “Ich begann zu begreifen, daß dies jetzt eine Form geworden ist, etwas, das die Leute bewahren möchten. Also dachte ich, warum nicht das spielen, was ich zuhause während all der Jahre gespielt habe: Bach, Beethoven, Haydn, Händel.”
Anderthalb Jahre lang spielte Jarrett also klassische Musik auf dem Klavier und konzertierte mit diesem Repertoire. Doch im Mai 1985 wollte er auch das nicht mehr: “Ich hatte die Welt der sogenannten klassischen Musiker kennengelernt und bei diesen Leuten fast nur Frustration gesehen – je höher der Rang, umso kultivierter die Frustration.” Daraufhin zog er sich in sein Haus zurück und nahm nach und nach “Spirits” auf; die intensive Beschäftigung mit der Musik der Bach-Zeit führte dann zur Produktion von “Book Of Ways”, einer dichten Kette von Improvisationen auf dem Clavichord, und schließlich zur Einspielung des ersten Bandes des “Wohltemperierten Klaviers” von Bach. Und in all den Jahren der Abstinenz als Solist gab Keith Jarrett natürlich auch Konzerte im Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette, wobei er sich bei seiner Neuinterpretation von amerikanischen “Standards” mit der geschlossenen musikalischen Form auseinandersetzte.

“Dark Intervals” nun ist also die erste Klavier-Solo-Platte Jarretts mit improviserter Musik seit “Concerts – Bregenz/München”, einem Mitschnitt von 1981. Die Aufnahme aus der akustisch besonders guten Suntory Hall in Tokio dokumentiert Jarretts pianistische und musikalische Entwicklung. So sehr er auch weiterhin dem Strom der musikalischen Eingebung vertraut, so sicher gelingt ihm hier die “kurze Form”. Doch die gesteigerte Prägnanz seines musikalischen Formulierens geht nirgends auf Kosten der Intensität, im Gegenteil: “Dark Intervals” enthält acht konzentrierte Stücke, in denen sich Jarrett trotz ihrer mitunter kurzen Dauer nichts von dem versagt, was sein Klavierspiel von dem aller anderen Pianisten unterscheidet: Da ist das bohrende Insistieren auf nur einem Intervall in ständig wechselnder Rhythmisierung, aus dem sich erst nach und nach so etwas wie ein Thema entwickelt (“Fire Dance”), da ist das Hymnische, das Jarrett schon früh als seinen besonderen Ausdruck gefunden hat (“Hymn”, “Americana”, “Ritual Prayer”), da ist seine eminente Begabung, die Klangräume des Klaviers jenseits alles bisher Gehörten auszuweiten (“Opening”), seine außergewöhnliche und kenntnisreiche Hingabe an die Harmonik der Romantik und der Spätromantik (“Recitative”), und schließlich, als Frucht seines jahrelangen Studiums der Musik Bachs, sein hochentwickeltes Vermögen, polyphon und kontrapunktisch zu improvisieren (“Parallels”).

“Opening” bündelt alle diese Fähigkeiten auf besondere Weise: Klingt das Stück zunächst noch wie ein in Töne übersetztes impressionistisches Aquarell, so entwickelt es sich schon bald zu einer ungeheuren Meditation über den Klang. Wenn der Pianist immer wieder die tiefsten Töne seines Flügels anschlägt, transzendiert er die Grenzen des Instruments. Die dabei entstehenden Cluster sind indes nur das Mittel, die Obertöne, die im Baßbereich verborgen sind, zum Klingen zu bringen. Mit der Kraft und der Konzentration eines Zen-Meisters macht Jarrett diese Töne hörbar und vermittelt dabei eine beinahe existentielle Erfahrung: Der Weg vom Dunklen zu den Sternen ist gar nicht so weit wie man immer geglaubt hat. Keith Jarrett, der seinen Musikverlag und sein Studio Cavelight genannt hat, weiß das. Das hellste, das kostbarste Licht brennt heller in Intervallen der Dunkelheit: “Light is only precious during dark intervals.” Im Dunkel ist Licht genug.

Aufnahme am 11. April 1987 in der Suntory Hall in Tokio (CD Veröffentlichung 1988) – Weitere Veröffentlichungen der Soloprojekte von Keith Jarrett finden Sie hier

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