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Pulsierend – Yannick Nézet-Séguin mit der ersten Sinfonie von Sergei Rachmaninow

Yannick Nézet-Séguin
© Georg Etheredge
28.01.2021
Dass Yannick Nézet-Séguin Rachmaninow quasi im Blut liegt, hat er vielfach unter Beweis gestellt, zuletzt eindringlich mit seinem gefeierten Zyklus sämtlicher Klavierkonzerte des russischen Komponisten. Eingespielt mit Daniil Trifonov am Klavier, löste das ambitionierte Aufnahmeprojekt bei Kritik und Publikum weltweit Wogen der Begeisterung aus. Das den Zyklus abschließende Album “Destination Rachmaninov – Arrival” ist aktuell sogar für einen Grammy nominiert. Dieser Erfolg dürfte Nézet-Séguin in seinem Vorhaben bestärkt haben, die Sinfonien von Sergei Rachmaninow mit dem Philadelphia Orchestra vollständig aufzunehmen. Der allerorts bewunderte Dirigent, der seit 2018 das hochbegehrte Amt des Musikdirektors der Metropolitan Opera in New York bekleidet und auf dem Zenit seiner Karriere steht, weiß um die Aktualität von Sergei Rachmaninow. Der russische Komponist kommt beim Publikum an. 
Bewusst verbindet Nézet-Séguin auf dem Album die Sinfonie Nr. 1 mit dem letzten Werk aus der Feder Rachmaninows, den Sinfonischen Tänzen. 40 Jahre nach dem Entstehen der frühen Sinfonie zeigen sich inhaltliche sowie motivische Parallelen zwischen den beiden Werken auf. Besonders das im Mittelalter verankerte Dies Irae-Motiv, das sich durch Rachmaninows gesamtes Schaffen zieht, ist hier aufzuführen. “Wenn ich seine Erste Sinfonie dirigiere, denke ich oft daran, dass sie ursprünglich ein großer Misserfolg war, was die Akzeptanz des Publikums angeht oder besser: die Ablehnung dieses Stücks. Das traf Rachmaninow derart, dass er einen Nervenzusammenbruch und drei Jahre eine tiefe Depression hatte und das Manuskript der Sinfonie vernichtete”, erklärt Nézet-Séguin. “Ich halte sie für ein Meisterwerk, aber sie wurde natürlich missverstanden”, sagt er weiter. “Dass er in diesem Werk das Motiv des Jüngsten Gerichts zitiert, lässt ahnen, dass Rachmaninow sein Leben lang Angst davor hatte, beurteilt zu werden. Am Ende seines Lebens, viele Jahrzehnte später, als er seine Sinfonischen Tänze komponierte, die im Orchestersatz viel schlanker und klarer sind und bei denen seine Orchestrierung viel wirkungsvoller ist als noch in der ersten Sinfonie, zitiert er aber immer noch das Motiv des Jüngsten Gerichtes – allerdings verbunden mit dem Wort ‘Halleluja’, das er in der Partitur notierte und das vielleicht zeigt das, dass er sich jetzt abfindet mit der Beurteilung durch andere.”
Dass in dem Gefühlsspektrum dieser Werke eine enorme Spannung liegt, hat Rachmaninow mit seiner pulsierenden Kompositionskunst überwältigend zum Ausdruck gebracht. Nézet-Séguin weiß mit den wilden Energien des Komponisten umzugehen. Wenn er “Rachmaninow dirigiert, will man am liebsten sofort aufstehen und tanzen”, so Adele Jakumeit in einem kürzlich ausgestrahlten WDR 3-Feature über das neueste Aufnahmeprojekt des kanadischen Dirigenten.

Emotionale Heftigkeit

Wie man in dem Auftaktalbum des in drei Teilen erscheinenden Sinfonien-Zyklus jetzt eindrucksvoll erleben kann, bewährt sich die lange gereifte Rachmaninow-Expertise des Dirigenten auch glänzend bei der ersten Sinfonie des russischen Komponisten. Nézet-Séguin bringt nicht nur die poetischen Stimmungen des Werkes ergreifend zur Geltung, sondern demonstriert auch lebhaft das pulsierende Element in Rachmaninows Musik. Der Komponist schrieb die erste Sinfonie als junger Mann mit Anfang 20 in den Jahren 1895/96. Er widmete das Werk Anna Lodizhenskaja, der Frau eines Freundes, in die er wahrscheinlich verliebt war. Der leidenschaftlich drängende Ton der Sinfonie Nr. 1 in d-Moll op. 13 hat Momente einer erotischen Verzweiflung, eines Verlangens, das keine Erfüllung findet. 
In den 1940 auf Long Island komponierten, dem Philadelphia Orchestra und seinem damaligen Chefdirigenten Eugene Ormandy gewidmeten Sinfonischen Tänzen Op. 45 nimmt die leidenschaftliche Impulsivität Rachmaninows eher vorwärtsdrängende, visionäre Formen an. Das Philadelphia Orchestra, das eine lange Aufführungstradition mit Sergei Rachmaninow verbindet, weiß beides hervorragend zu nehmen: die empfindsamen Stimmungsgebilde des großen Komponisten nicht weniger als seinen modernen energetischen Furor. 

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